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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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die Perspektive eines Katers – in dem Buch dominiert und jede andere ausgeschlossen ist, so hat es der Leser im Grunde doch mit einem gemischten Blick auf die Welt zu tun. Der Erzähler ist kein unwissendes Tier, sondern ein mit besonderen Fähigkeiten ausgestatteter Kater, der zum Beispiel einem Gespräch folgen und sogar lesen kann.
    Doch der Erzähler verleugnet seine Herkunft nicht und bleibt dem Katzenvolk verbunden. So nimmt er Beziehungen zu zwei anderen Katzen des neuen Viertels auf, zur Kätzin Schildpatt und zum Kater Schwarz. Letzterer ist Herr im Revier, in dem er sich durch seine Körperkraft Respekt verschafft. Doch er nimmt auch einen besonderen Platz ein, weil er das tierische Emblem für eine ganze Reihe von Romanfiguren, allesamt Aufschneider, darstellt. Die Prahlerei von Kater Schwarz spielt sich in verschiedenen, für Katzen wesentlichen Bereichen ab, einer davon betrifft die Zahl der gefangenen Mäuse, eine Domäne, in der er seine Leistungen kaltschnäuzig zu übertreiben pflegt.
    ∗
    Kater Schwarz hat unter den Menschen, die im Haus des Lehrers verkehren, einen Doppelgänger. Diese Figur, M., wird vom Katzenerzähler als
Ästhetiker mit Goldbrille
bezeichnet und hat die Eigenschaft, ständig irgendeinen Unsinn zu erzählen, einzig aus Spaß, die anderen an der Nase herumzuführen.
    Zu Beginn des Buches also erzählt M. dem Lehrer, dersich für Malerei interessiert und selbst zum Pinsel greifen möchte, von dem italienischen Maler Andrea del Sarto und legt ihm eine Theorie auseinander, nach der Letzterer empfohlen haben soll, so viel wie möglich nach der Natur zu malen und sich als Erstes im Skizzieren zu üben. Der Lehrer schenkt seinen Worten Glauben, hat aber mit seinen Malversuchen wenig Erfolg. Da verrät ihm der Ästhetikspezialist, dass er seine Äußerungen über del Sarto frei erfunden hat, weil es ihn amüsiert, mit der Leichtgläubigkeit der Leute zu spielen:
    »Der Spezialist für Ästhetik schien höchst entzückt. Ich verfolgte von der Veranda aus ihre Unterhaltung und konnte nicht umhin, mir schon einmal auszumalen, wie der heutige Tagebucheintrag meines Herrn lauten würde. Der Ästhetikspezialist ist ein Mann, der nur eine einzige Freude kennt: nämlich überall substanzlose Geschichten herumzuerzählen und damit die Leute auf den Arm zu nehmen. Er schien nicht im geringsten zu bedenken, welche Auswirkungen die Andrea-del-Sarto-Affäre auf das Gemüt meines Herrn haben konnte, denn selbstgefällig setzte er seine hurtige Zunge wieder in Bewegung:
    ›Nein, nein! Wenn ich von Zeit zu Zeit einen Scherz zum besten gebe und die Leute das für bare Münze nehmen, erregt das ein ästhetisches Gefühl von beträchtlicher Komik in mir, und das amüsiert mich. Kürzlich erzählte ich einem Studenten, daß Gibbon, auf den Rat von Nicholas Nickleby hin, aufhörte, sein epochales Monumentalwerk
Die Geschichte der Französischen Revolution
auffranzösisch zu schreiben, und es auf englisch erscheinen ließ, und dieser Student, der ein geradezu idiotisch gutes Gedächtnis hat, wiederholte auf einem Vortragsabend der ›Literarischen Gesellschaft Japans‹ in vollem Ernst und wortwörtlich diese Geschichte. War sehr spaßig! An diesem Abend waren übrigens an die hundert Zuhörer anwesend, und die hingen ausnahmslos voller Andacht an seinen Lippen.«[ 3 ]
    Die Geschichte, die der Ästhetiker erzählt, ist doppelt abstrus. Zum einen hätte Nicholas Nickleby, der eine fiktive Figur ist, einige Mühe, Edward Gibbon, einem tatsächlich existierenden englischen Historiker, Ratschläge zu erteilen. Und selbst wenn sie demselben Universum angehören würden, hätten sie sich kaum miteinander unterhalten können, da Nickleby zum ersten Mal im Jahr 1838 in der literarischen Welt in Erscheinung tritt, zu einem Zeitpunkt, als Gibbon bereits fünfzig Jahre tot ist.
    Wenn der Ästhetiker in diesem ersten Beispiel Unfug erzählt, so kann man das für das zweite, das unsere Reflexion über die ungelesenen Bücher unmittelbar berührt, nicht behaupten:
    »Und ich habe noch eine amüsante Geschichte für dich. Kürzlich war ich in Gesellschaft eines gewissen Literaten, und als das Gespräch auf Harrisons Geschichtsroman
Theophano
[ 4 ] kam, sagte ich, daß) man unter Geschichtsromanenseinesgleichen nicht noch einmal finden würde. Als ich dann insbesondere die Szene, in der die Protagonistin stirbt, als eine Textpassage von atemberaubender Dämonie würdigte, nickte mir eine mir gegenübersitzende
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