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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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dass es ganz normal ist, es nach der Lektüre mit dem Buch zu verbinden und in gewisser Weise zu dessen integralem Bestandteil zu machen.
    So sind die Bücher, über die wir sprechen, nicht nur reale Gegenstände, die durch eine imaginäre vollständige Lektüre in ihrer objektiven Materialität wieder aufgefunden werden könnten, sondern immer auch
Phantombücher,
die am Kreuzungspunkt der unvollendeten Möglichkeiten jedes Buches und unseres Unbewussten in Erscheinung treten und unsere Träume und Gespräche mit Sicherheit noch mehr anregen als die realen Gegenstände, aus denen sie rein theoretisch hervorgegangen sind.[ 10 ]
    ∗
    Wie wir sehen, eröffnet die Diskussion über ein Buch einen Raum, in dem die Begriffe von wahr und falsch ganz im Gegensatz zur Meinung des Ästhetikers mit Goldbrille viel von ihrer Gültigkeit verlieren. Als Erstes ist es schwierig, mit Sicherheit zu wissen, ob man ein Buch gelesen hat oder nicht, da die Lektüre immer auch ein Ort des Auslöschens ist. Darüber hinaus ist es beinahe unmöglich herauszufinden, ob esdie anderen gelesen haben, was als Erstes voraussetzen würde, dass sie selbst diese Frage beantworten können. Und zu guter Letzt ist der Inhalt eines Textes ein derart verschwommener Begriff, dass man eigentlich gar nicht mit Sicherheit behaupten kann, dass etwas nicht darin vorkommt.
    Der virtuelle Raum des Gesprächs über Bücher ist also von einer großen Unbestimmtheit geprägt, sowohl in Bezug auf die Akteure dieser Szene, die unfähig sind, genau zu sagen, was sie gelesen haben, als auch, was den wandelbaren Diskussionsgegenstand selbst betrifft. Diese Unbestimmtheit aber hat nicht nur Nachteile. Sie bietet, wenn die diversen Bewohner dieser flüchtigen Bibliothek die Gelegenheit nutzen und sie in einen authentischen Raum der Fiktion zu verwandeln wissen, auch eine große Chance.
    Dass die virtuelle Bibliothek unserer Gespräche über Bücher der Fiktion zuzurechnen ist, darf nicht etwa abwertend verstanden werden. Tatsächlich kann sie, wenn ihre Bewohner die Gegebenheiten respektieren, der Ort einer originalen Schöpfung sein. Ein solcher kreativer Akt kann von dem Widerhall ausgelöst werden, den das Erwähnen des Buches bei seinen Nichtlesern auslöst. Dieser Prozess kann sowohl individueller als auch kollektiver Natur sein. Sein Ziel ist es, auf der Grundlage des jeweiligen Echos dasjenige Buch zu konstruieren, das der jeweiligen Situation, in der sich die Nichtleser befinden, am besten entspricht. Ein Buch, das zwar nur schwache Verbindungen mit dem Original unterhält (wie sollte man sich dieses im Übrigen vorstellen?), einem hypothetischen Treffpunkt zwischen den diversen inneren Büchern aber so nah wie nur möglich kommt.
    In einem anderen seiner Romane,
Das Graskissen-Buch
[ 11 ], stellt uns Soseki einen Maler vor, der sich in die Berge zurückgezogen hat, um mit seiner Kunst ins Reine zu kommen. Eines Tages betritt die Tochter seiner Wirtin das Arbeitszimmer und fragt ihn, als sie ihn mit einem Buch in der Hand sieht, was er da lese. Der Maler antwortet ihr, er wisse es selbst nicht, denn seine Methode bestehe darin, ein Buch einfach an irgendeiner Stelle aufzuschlagen und die entsprechende Seite zu lesen, ohne den Rest zu kennen.[ 12 ] Als der Maler die Überraschung des Mädchens bemerkt, erklärt er ihr, dass dieses Vorgehen für ihn interessanter sei: »Ich öffne das Buch so, wie ich ein Los ziehe, und lese aufs Geratewohl das, was ich gerade vorfinde – genau das ist reizvoll!«[ 13 ]
    Da bittet ihn die junge Frau um eine Kostprobe, er willigt ein und übersetzt ihr laufend die betreffenden Stellen des englischen Buches, das er in der Hand hat, ins Japanische. Es geht um einen Mann und eine Frau, über die man nichts weiß, außer dass sie sich in Venedig auf einem Schiff befinden. Auf die Frage seiner Gefährtin, die neugierig ist, wer diese Figuren sind, antwortet der Maler, er habe keine Ahnung, denn er habe das Buch nicht gelesen und wolle es auch gar nicht wissen:
    »Wer waren wohl jener Mann und jene Frau?‹
    ›Das weiß ich auch nicht. Eben das ist das Faszinierende! Ihr bisheriges Verhältnis mit allem Drum und Dran istvöllig unwesentlich! Es zählt einzig und allein die Tatsache, daß sie, wie jetzt Sie und ich, am selben Ort zusammen sind, meinen Sie nicht auch?‹«[ 14 ]
    Worauf es in einem Buch ankommt, liegt außerhalb von ihm, es ist der Moment des Gesprächs, zu dem es Anregung oder Mittel ist.
Das Gespräch über ein Buch
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