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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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Schimäre einer umfassenden Bildung entsprechend, die uns die Schule vermittelt und die uns am Leben und Denken hindert.
    Diese Angst vor dem Wissen des anderen ist jedoch im Hinblick auf Bücher vor allem ein Hindernis für jede wahrhaftige Schöpfung. Die Vorstellung, dass der andere gelesen hat und also mehr weiß als wir, reduziert die kreative Tätigkeit auf einen Notbehelf, zu dem Nichtleser greifen, um sich aus der Affäre zu ziehen, während doch Leser wie Nichtleser, ob sie es wollen oder nicht, in einen unendlichen Prozess des Büchererfindens verstrickt sind und die wahre Frage somit nicht ist, wie man ihm am besten entkommt, sondern wie man seine Dynamik und Reichweite noch steigern kann.
    ∗
    Zu dieser ersten Unsicherheit über die Kompetenz der Gesprächspartner aber kommt noch eine zweite hinzu, die wir bereits bei Balzac entdeckt haben, sich hier aber noch akzentuiert, betrifft sie doch diesmal das Buch selbst. Wenn es schwierig ist, zu wissen, was der andere und was man selbst weiß, dann auch, weil es nicht so einfach ist, Klarheit darüber zu gewinnen, was überhaupt in einem Text steht. Und dieser Zweifel betrifft nicht nur, wie bei Balzac, seinen Wert, sondern erstreckt sich auch auf den »Inhalt«.
    Ein Beispiel dafür ist Frederic Harrisons Roman
Theophano
[ 7 ],der nach Ansicht des Ästhetikers mit Goldbrille Anlass sein könnte, sich selbst oder andere zu täuschen. Im Jahr 1904 veröffentlicht, gehört er einer Gattung an, die man als Genre des byzantinischen Romans bezeichnen könnte. Er setzt im Jahr 956 nach Christi ein, erstreckt sich bis 969 und erzählt den siegreichen Gegenangriff des Kaisers von Konstantinopel, Nikephoros Phokas, gegen den Islam.
    Hier drängt sich die Frage auf, ob der Ästhetiker Märchen erzählt, wenn er das dramatische Ende der Heldin beschreibt, was übrigens auf die Frage hinausläuft, ob Soseki selbst von einem ungelesenen Buch spricht oder nicht. Kann man also sagen, dass die Heldin stirbt, und wenn ja, rührt ihr Tod so sehr, dass einem ein Schauer über den Rücken läuft?
    Die Antwort ist nicht einfach. Zwar kommt die historische Figur, die als die eigentliche Heldin gilt – Theophano, die Gemahlin des Kaisers Nikephoros, den sie vergiften ließ –, nicht um, sie wird jedoch auf der letzten Seite des Buches gefangen genommen und des Landes verwiesen.[ 8 ] Es geht also tatsächlich um eine Art Tod oder zumindest Weggang, und ein Leser, der das Buch wirklich gelesen hat, kann die genauen Umstände dieser Beseitigung aufrichtig vergessen haben und sich nur noch daran erinnern, dass ihr ein Unglück zustößt, ohne dass man ihn deswegen des Nichtlesens bezichtigen könnte.
    Das Problem wird aber noch komplizierter, wenn man bedenkt, dass es in dem Roman nicht nur eine, sondern zweiHeldinnen gibt. Die zweite, eine stille, positive Person, Prinzessin Agatha, zieht sich, als sie vom Kampfestod ihres Geliebten Basil Digenes erfährt – ein Gefährte des Kaisers Nikephoros –, in ein Kloster zurück. Die Stelle ist umso gelungener, als sie keinen allzu lyrischen Ergüssen stattgibt. Es gibt im Buch somit durchaus auch einen ergreifenden Weggang einer weiblichen Figur, und die vermeintliche Erinnerung an ihren Tod kann kaum als Kriterium für die Wahrscheinlichkeit dienen, ob der angebliche Leser das Buch auch wirklich gelesen hat.
    Auf einer ganz anderen Ebene, auf der es nicht mehr um die konkrete Frage geht, ob die Heldin in
Theophano
stirbt oder nicht, rühmt der Ästhetikspezialist die Qualität der Stelle ganz zu Recht, denn in gewisser Weise ist sie, zumindest in Form einer nicht ausgeführten Möglichkeit, durchaus vorhanden. Es gibt nur wenige Abenteuerromane aus jener Zeit, in der keine weibliche Figur vorkommt, und es ist schwer vorstellbar, wie man die Aufmerksamkeit des Lesers über längere Zeit aufrechterhalten könnte, ohne eine Liebesgeschichte einzubauen. Und wie sollte man dann die Heldin am Leben lassen, wenn man nicht eine Geschichte mit Happy End erzählen will, was der Literatur im Allgemeinen nicht sehr gut bekommt?[ 9 ]
    Es ist also doppelt schwer zu wissen, ob der Ästhetiker
Theophano
gelesen hat oder nicht. Zum einen ist die Behauptung gar nicht so falsch, dass es um den Tod einer Heldin geht, auch wenn der Begriff Weggang vielleicht eher angebrachtwäre. Außerdem beweist die Tatsache, dass man sich in diesem Punkt irrt, noch lange nicht, dass man das Buch nicht gelesen hat, da das Phantasma vom Tod der Heldin so prägnant ist,
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