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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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Verachtung seiner Freunde für die Bücher ist hier destabilisierend als seine eigene Untreue gegenüber den anderen und sich selbst, eine Untreue, die übrigens auch der Grund für seinen Fall sein wird.[ 20 ]
    ∗
    Anerkennen, dass Bücher nicht aus fixen Texten bestehen, sondern wandelbare Objekte sind, ist in der Tat verunsichernd, spiegelt es doch unsere eigene Unsicherheit wider und konfrontiert uns so mit unserem Wahnsinn. Wenn wir aber, noch ungehemmter als Lucien, das Risiko dieser Konfrontation eingehen, können wir den Büchern in ihrer ganzen Vielfalt gerecht werden und gleichzeitig den verzwickten Kommunikationssituationen aus dem Weg gehen, mit denen das Leben uns aufwartet.
    Die Wandlungsfähigkeit eines Textes ebenso wie unsere eigene zu erkennen, ist in der Tat ein großer Vorteil, verschafft es uns doch eine große Freiheit, gegenüber anderenunsere Meinung durchzusetzen. Balzacs Helden zeigen sehr schön, wie außerordentlich anpassungsfähig die virtuelle Bibliothek ist und mit welcher Leichtigkeit sie sich den Forderungen dessen beugt, der, ob er das Buch nun gelesen hat oder nicht, entschlossen ist, sich nicht von den Bemerkungen sogenannter Leser von der Richtigkeit seiner Sicht der Dinge abbringen zu lassen.
     
     
     
       1 QB, EB und VB +
       2 UB −
       3 UB +
       4 UB —
       5 H ONORÈ DE B ALZAC ,
Verlorene Illusionen.
Aus dem Französischen von Udo Wolf, München 1965, Zweites Buch, S. 279
       6 Ibid., S. 282f.
       7 Ibid., S. 283
       8 Ibid., S. 284
       9 Ibid., S. 384f.
    10 Ibid., S. 386
    11 Ibid.
    12 Ibid., S. 387
    13 Ibid., S. 390
    14 Ibid., S. 390f.
    15 Ibid., S. 399
    16 Ibid., S. 399f.
    17 Ibid., S. 405
    18 Ibid.
    19 Ibid, S. 410f.
    20 Nachdem er erst mit den Liberalen gebrochen hat, versucht sich Lucien den Royalisten anzunähern und verdirbt es sich schließlich mit allen.

Drittes Kapitel
BÜCHER ERFINDEN
    in dem man in einem Buch Sosekis den Rat einer Katze und eines Ästhetikers mit Goldbrille bekommt, die beide, in unterschiedlichen Bereichen, die Notwendigkeit des Erfindens vertreten
    W ENN EIN B UCH WENIGER EIN B UCH als eine komplexe Gesprächssituation ist, innerhalb derer es zirkuliert und sich verändert, so muss man also für diese Situation empfänglich sein, um treffend über ein nicht gelesenes Buch zu sprechen. Denn es geht nicht um das Buch, sondern um das, was in einem Raum der Kritik, in dem es sich positioniert und unaufhörlich verwandelt, aus ihm geworden ist, und über diese wandlungsfähige Größe – ein bewegliches Beziehungsgeflecht zwischen Texten und Menschen – gilt es, im richtigen Augenblick die richtigen Gedanken zu formulieren.
    Diese Verwandlung betrifft nicht nur den
Wert
der Bücher – von dem wir bei Balzac gesehen haben, wie schnell er sich mit der Stellung des Autors im politischen und literarischen Umfeld ändert –, sondern ebenso ihren
Inhalt,
der, genauso instabil, in einem Gespräch ganz unterschiedliche Variationen annehmen kann. Diese Wandlungsfähigkeit des Textes muss nicht als Nachteil betrachtet werden. Für jemanden, der sie sich zunutze zumachen weiß, bietet sie ganz im Gegenteil eine außerordentliche Möglichkeit, selbst zum Schöpfer ungelesener Bücher zu werden.
    ∗
    In dem Roman
Ich der Kater
[ 1 ], vielleicht sein bekanntestes Werk, betraut der japanische Schriftsteller Natsume Sôseki eine Katze mit der Erzählung des Buches, die ihre Autobiografie mit den Worten einleitet:
    »Gestatten, ich bin ein Kater! Unbenamst bislang.
    Wo ich geboren wurde, davon habe ich nicht die mindeste Ahnung. In Erinnerung geblieben ist mir lediglich, daß der Ort meiner Geburt düster und feucht war und ich kläglich vor mich hinmiaute. An diesem Ort sah ich erstmals einen
Menschen.
Aber was heißt schon: einen
Menschen!
Ich sah, wie ich später erfuhr, einen Studiosus, einen Angehörigen jener Species, welche unter den Menschen als die grausamste angesehen wird.«[ 2 ]
    Bei seiner ersten Begegnung mit der menschlichen Art hat der Katzenerzähler des Romans, der während des ganzen Werks namenlos bleiben wird, kein Glück. Er gerät an einen Studenten, der ihn so sehr misshandelt, dass er eines Tages an einem unbekannten Ort aus einer Ohnmacht erwacht. Er schleicht sich in ein fremdes Haus, wo er vom Besitzer, einem Gymnasiallehrer, aufgelesen wird.
Ich der Kater
ist der Erzählung seines Lebens in diesem Haus gewidmet, das er sich als Wohnort auserwählt hat.
    Wenn auch die Perspektive des Katzenerzählers –
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