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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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erscheint, erzählt ihm Lousteau, er habe eben den völlig verzweifelten Nathan getroffen, und der sei zu gefährlich, um ihn sich zum Feind zu machen. Er rät ihm also, »ihn mit Lob zu überschütten«[ 17 ]. Als Lucien sich wundert, dass man diesmal einen positiven Artikel über das Buch von ihm verlangt, das er gerade kritisiert hat, löst er bei seinen Freunden erneut Heiterkeit aus. Er erfährt, dass einer von ihnen in der Zeitungsredaktion vorbeigegangen ist und den Artikel mit einem wenig kompromittierenden C. gezeichnet hat. Jetzt also hindert Lucien nichts mehr daran, in einer anderen Zeitung einen anderen Artikel zu schreiben und diesmal mit einem L. zu unterschreiben.
    Doch Lucien hat seiner jüngsten Meinung nichts hinzuzufügen. Nach Lousteau ist nun Blondet, ein anderer seiner Freunde, an der Reihe, ihm eine Lehre zu erteilen, indemer ihm erklärt: »Mein Lieber, in der Literatur hat alles seine Licht- und seine Schattenseite; niemand kann es auf sich nehmen zu behaupten, welches die Schattenseite ist. Alles hat seine zwei Seiten auf dem Gebiet des Denkens. Die Ideen bestehen aus zwei Einheiten. Janus ist der Mythos der Kritik und das Symbol des Genies.«[ 18 ] Damit legt Blondet Lucien nahe, in diesem zweiten Artikel die gerade aktuelle Theorie anzugreifen, nach der es eine Literatur der Idee und eine Literatur des Bildes gebe, wo doch die höchste literarische Kunst ganz im Gegenteil die beiden zu verbinden wisse.
    Und um das Maß voll zu machen, schlägt Blondet Lucien sogar vor, sich nicht auf die beiden – mit C. oder L. gezeichneten – Artikel zu beschränken, sondern noch einen dritten, diesmal unter dem Namen
de Rubempré
zu verfassen, der die beiden anderen miteinander versöhnt, und darin zu zeigen, dass die Heftigkeit der von Nathans Buch ausgelösten Diskussion ein Zeichen seiner literarischen Bedeutung ist.
    ∗
    In Balzacs Szene werden die Merkmale dessen, was ich virtuelle Bibliothek genannt habe, bis zur Karikatur gesteigert. In dem intellektuellen Mikrokosmos, den der Romancier beschreibt, zählt einzig die soziale Stellung der verschiedenen Akteure. Die Bücher an sich sind auf ein Schattendasein reduziert und tun nichts zur Sache, und niemand – weder Kritiker noch Verleger – nimmt sich auch nur die Mühe, sie zulesen, bevor er sich dazu äußert. Um sie geht es nicht, sie sind durch etwas Drittes ersetzt, das sich von dem instabilen Wechselspiel zwischen sozialen und psychologischen Mächten herleitet.
    Wie in Lodges Erniedrigungsspiel bleibt in diesem Raum die Scham ein wesentliches Organisationselement, doch ist ihre Rolle hier ironischerweise genau umgekehrt. Nicht mehr der, der ein Buch nicht gelesen hat, ist von Erniedrigung und Demütigung bedroht, sondern der, der es gelesen hat, wird die Lektüre doch als degradierend betrachtet und einer Halbweltdame anvertraut. Noch immer aber organisiert sich der Raum, der trotz seines spielerischen Erscheinungsbildes eine große psychische Gewalt ausübt, um dieses Schamgefühl herum.
    Bei Balzac wie bei Lodge geht es um Machtpositionen. Die Bedeutung der Macht bei der Beurteilung eines Werkes fällt umso mehr auf, als ihre Verbindung zum literarischen Wert direkt und unmittelbar ist. Eine positive Kritik trägt zur Macht bei, und umgekehrt garantiert die Macht positive Kritiken und sogar, wie in Luciens Fall, die Qualität des Textes selbst.
    In gewisser Weise stellt das von Balzac beschriebene Universum die Kehrseite von Lodges Welt dar. Während das Milieu des amerikanischen Akademikers vom Tabu des Nichtlesens geprägt ist – sodass sich jemand, der sich darauf beruft, aus dem kulturellen Raum ausschließt –, ist die Übertretung bei Balzac allgemein verbreitet und wird gar die Regel, sodass schließlich das Lesen, das als erniedrigend angesehen wird, mit einer Art Tabu behaftet ist.
    Die Überschreitung ist hier doppelter Ordnung. Einerseitsist es nicht nur zulässig, sondern sogar empfehlenswert, von Büchern zu reden, ohne sie aufgeschlagen zu haben, und Lucien macht sich lächerlich mit seiner Meinung, es könnte vielleicht auch anders sein. Im Grenzfall gibt es gar keine Übertretung mehr, da es niemandem mehr in den Sinn kommt, ein Buch zu lesen; erst als jemand im literarischen Raum auftaucht, der mit den Gepflogenheiten der Journalisten nicht vertraut ist, wird die Hypothese des Lesens kurz in Erwägung gezogen, allerdings, um sie sofort wieder zu verwerfen.
    Zu dieser ersten Übertretung aber kommt noch eine zweite
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