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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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ausgehend von ihren
inneren Büchern
konstruieren. Das Phantombuch gehört zur virtuellen Bibliothek unserer Gespräche, wie das Deckbuch zur kollektiven und das innere Buch zur inneren Bibliothek.
    11 UB ++
    12 N ATSUME S ÔSEKI ,
Das Graskissen-Buch.
Aus dem Japanischen übers. und mit einem Nachwort vers. von Christoph Langemann, Berlin 1996, S. 127
    13 Ibid., S. 129
    14 Ibid., S. 131

 

NACHWORT
    Die Analyse all der delikaten Situationen, denen wir in diesem Essay begegnet sind, hat uns gezeigt, dass wir, wollen wir ihnen gewachsen sein, nicht um einen psychologischen Entwicklungsprozess herumkommen werden. Um einen Entwicklungsprozess, der uns nicht nur dabei hilft, die Ruhe zu bewahren, sondern der uns zu einem tiefgehenden Umdenken über unseren Umgang mit Büchern führt.
    Das heißt als Erstes, dass wir uns von einer ganzen Reihe meist unbewusster Verbote lösen müssen, die unsere Vorstellung von Büchern belasten und schuld daran sind, dass wir sie seit unserer Schulzeit als unantastbare Objekte denken und ein schlechtes Gewissen bekommen, sobald wir die geringste Änderung an ihnen vornehmen.
    Die Aufhebung dieser Verbote ist die Voraussetzung dafür, uns diesem unendlich wandelbaren Gegenstand zu öffnen, den ein literarischer Text darstellt, der umso wandelbarer ist, wenn er zum Thema eines mündlichen oder schriftlichen Austauschs wird, bei dem er sich an der Subjektivität jedes Lesers und an seinem Dialog mit anderen belebt. Diese Offenheit bedeutet, dass man eine besondere Sensibilität für sämtliche Möglichkeiten entwickelt, die er in solchen Situationen transportiert.
    Ohne diese Vorarbeit an sich selbst ist es auch nicht möglich, auf sich zu hören, auf die inneren Resonanzen, die jedesWerk in uns auslöst und die tief in unsere eigene Lebensgeschichte reichen. Eine Begegnung mit ungelesenen Büchern wird umso bereichernder sein – und umso eher mitteilbar –, wenn man seine Inspiration in sich selbst schöpft.
    Diese andere Aufmerksamkeit für Texte und für sich selbst erinnert an die, die man zu Recht von einer Psychoanalyse erwartet, deren erste Aufgabe darin besteht, den, der sich ihr unterzieht, von seinen inneren Zwängen zu befreien und ihn so, über einen Weg, über den er allein bestimmt, für die Vielfalt seiner schöpferischen Möglichkeiten zu öffnen.
    ∗
    Selbst schöpferisch zu werden, darauf laufen sämtliche Folgerungen aus unseren Beispielen hinaus, und ein solches Projekt steht allen offen, die sich durch einen inneren Prozess von jedem Schuldgefühl befreit haben.
    Denn das Reden über nicht gelesene Bücher ist eine im wahrsten Sinne schöpferische Tätigkeit, nicht weniger respektabel, wenn auch diskreter, als manch andere, die sich einer größeren sozialen Anerkennung erfreuen. Dass alle Aufmerksamkeit gewöhnlich auf den traditionellen künstlerischen Praktiken ruht, hat zur Folge, dass weniger angesehene Tätigkeiten vernachlässigt, gar verkannt werden, weil sie von Natur aus eher in einer Art Untergrund ausgeübt werden.
    Wie aber könnte man in Abrede stellen, dass das Reden über ungelesene Bücher eine schöpferische Tätigkeit darstellt, die dieselben Kräfte mobilisieren kann wie die anderen Künste? Um sich davon zu überzeugen, muss man nur an all die Fähigkeiten denken, die sie weckt, sei es die Aufmerksamkeitfür die im Werk angelegten Möglichkeiten, das Analysieren des neuen Kontexts, in den es sich einschreibt, die Berücksichtigung der anderen Gesprächsteilnehmer und ihrer Reaktionen und nicht zuletzt das Gestalten einer packenden Erzählung.
    Dieses Schöpferischwerden aber betrifft nicht nur den Diskurs über nicht gelesene Bücher. Auf einem höheren Niveau verlangt jede kreative Tätigkeit, was auch immer ihr Gegenstand ist, eine gewisse Ablösung von den Büchern. Denn wie es Wilde sehr schön zeigt, besteht eine Form von Antinomie zwischen Lesen und Schöpfung, da jeder Leser Gefahr läuft, sich im Buch eines anderen zu verlieren und sich damit von seiner eigenen Welt zu entfernen. Und wenn der Kommentar über die ungelesenen Bücher eine Form von Schöpfung ist,
bedeutet Schöpfung umgekehrt, dass man sich nicht allzu sehr mit den Büchern aufhalten soll.
    Selbst zum Schöpfer persönlicher Werke zu werden, stellt also die logische und erwünschte Weiterführung des Sprechenlernens über nicht gelesene Bücher dar. Diese Schöpfung bezeichnet einen weiteren Schritt in der Selbstfindung und in der Befreiung vom Gewicht der Bildung, welche
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