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Wie ich mir das Glück vorstelle

Wie ich mir das Glück vorstelle

Titel: Wie ich mir das Glück vorstelle
Autoren: Martin Kordić
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Schlüssel aufbekommst, der so lang ist wie eine Gurke. Den hat die Oma selbst geschmiedet. Das ist ein rostiger und verbogener Eisenstab.

    Öffnest du damit die linke Tür, stehst du in einem Raum mit einem Ofen, einem Tisch, zwei Stühlen und einer alten Rückbank aus dem Bus von dem Onkel, der vor langer Zeit nach Amerika auswandert. Öffnest du die rechte Tür, stehst du in einem Raum, der mit Strohmatratzen ausgelegt ist. Ansonsten stehst du draußen. Zwischen den Räumen gibt es keine Tür. Das ist alles. Du wäschst dich vor dem Brunnen. Da steht eine Schale, in die du das Wasser reinkippst, das du vorher mit einem Eimer aus dem Brunnen hochziehst. Und wenn du strullen musst, gehst du entweder in den Schweinestall oder einfach irgendwohin. Du musst aufpassen, dass dich keiner beobachtet.
    Als ich zur Welt komme, leben hier vier Erwachsene (die Oma, der Opa, der Onkel und die Frau vom Onkel) und fünf Kinder (die Kinder vom Onkel). Mit den beiden Nachbarhöfen zusammen sind im alten Teil vom Dorf ungefähr dreißig Menschen. Mit den neuen Häusern an der Straße weiter unten sind es ungefähr achtzig. Ich versuche manchmal alle aus meiner Familie auf ein Bild zu malen, aber immer vergesse ich einen. Zusammen sind wir ein Dorf, das alle das Dorf der Glücklichen nennen. Gehst du ungefähr eine Stunde zu Fuß hinten über die Felder und Weinberge, kommst du zum Dorf der Verrückten. Das ist das Nachbardorf. Ein paar Schwestern von dem Vater werden dahin verheiratet. Die Männer sind sehr brutal. Die suchen immer einen Grund, sich zu betrinken oder mit Gewehren wie wild in der Gegend rumzuschießen. Wenn es hier irgendwo einen Krieg gibt, sind es immer die Männer aus dem Dorf der Verrückten, die die großen Helden sind. Sogar bei uns in der Gemeinschaft von den Söhnen Marias sind ein paar von den Männern. Auch die sind große Helden, als die zu uns kommen.
    Den ganzen Herbst verbringt die Mutter hier im Dorf. Die Mutter wartet mit den anderen Verwandten und dem Bruder auf den Winter und die Geburt. Der Vater ist wieder in der Stadt oder sonst wo auf der Welt. Der fährt Mercedes und hat einen wichtigen Beruf. Der Vater ist Bauarbeiter. Der baut Brunnen, Straßen und Brücken. Ohne den Vater und ohne die anderen aus dem Dorf der Glücklichen sieht die Welt ganz anders aus. Überall bauen die Sachen auf. Die Menschen, die in den Ländern und in den Städten leben, sind sehr glücklich darüber und dankbar. Der Vater fährt Mercedes. Alle wichtigen Menschen fahren Mercedes.
    Das versteinerte Stück Holz findet der Vater, als er ganz weit weg in der Wüste kilometertief in den Sand bohrt. Mit einem Gerät, das kein einziger Wüstenmensch selbst bedienen kann. Deshalb holen die den Vater. Mit einem Flugzeug fliegt er dahin und ein Geländewagen holt ihn ab und fährt ihn in die Wüste. Zwei Jahre hat der Vater keinen festen Boden unter den Füßen. Nur Sand und die Pedale von seiner riesigen Bohrmaschine. Ich kenne ein Foto vom Vater in der Wüste. Der steht auf einem Sandberg und trägt gelbe Hosenträger. Auf der Brusttasche ist ein blauer Flicken mit einem weißen Buchstaben drauf. Auf dem Helm ist ein blauer Kleber mit einem weißen Buchstaben drauf. Rechts und links hat der zwei Männer im Arm. Die haben beide einen Turban auf dem Kopf.
    Der Vater sagt: Ganz kaputte Knie hatten die und trotzdem sind sie jeden Tag gekommen und wollten helfen. Da kann also auch aus dir noch ein richtiger Arbeiter werden.
    Der Vater haut mir hinten auf den Kopf und der Schmerz zieht mir bis in den großen Zeh.
    Aber ich will dir doch erzählen, was ich von meiner Geburt weiß. Die Verwandten finden die Geschichte immer sehr spannend. Die Verwandten sprechen immer darüber, wenn ich in den Ferien zu Besuch bin.
    Ein paar Tage vor meiner Geburt fängt es an zu schneien. Am Ende kann keiner mehr erkennen, wo genau der Brunnen steht. Die Mutter erwartet ein Mädchen. Sie ist sich absolut sicher und jeder glaubt ihr. Kurz vor Mitternacht trägt der Onkel die schreiende Mutter aus dem Raum mit den Strohmatratzen in die Küche und legt sie auf die ausgebaute Rückbank von dem Bus. Direkt neben den Ofen, in dem das Holz brennt. Seit zwei Tagen liegt die Mutter in den Wehen. Schon ein paar Mal ist sie bewusstlos. Seit fünf Tagen schläft sie nicht mehr und die Oma macht ihr heiße Wickel an die Beine. Alle sind da. Die Oma, der Opa, der Onkel, die Tante, die fünf Kinder, der Bruder und die Kuh.
    Die Schwestern in der Gemeinschaft
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