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Wie ich mir das Glück vorstelle

Wie ich mir das Glück vorstelle

Titel: Wie ich mir das Glück vorstelle
Autoren: Martin Kordić
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Zettel steht: Mit traurigem Herzen und Schmerz in der Seele verabschieden wir uns. Dazu der Name von dem Toten und ein Foto. Unter jeder Anzeige steht außerdem: Die trauernden Söhne Marias in aller Welt.
    Die Wunde unten am Rücken ist nass. Der Wind macht die Stelle kalt. Eine Todesanzeige ist für den Jungen. Auf der Anzeige ist das Foto von mir, das ich auch bei Bubka verstecke. Ich bin auf dem Foto drei oder vier Jahre alt. Es zeigt hier nur einen kleinen Ausschnitt. Mein Gesicht. Ich kneife die Augen zusammen und reiße den Mund weit auf und lache. Unten auf dem Foto sind noch die Hosenträger und der Pulli, den ich darunter anhabe. Auf dem Foto hier ist alles grau und weiß. Aber in echt sind die Hosenträger dunkelblau und der Pulli ist hellblau. Ich umarme auf dem Bild meinen Bruder. Er sitzt rechts neben mir. Aber das kann hier keiner sehen.
    Die Mutter sagt: Morgen kommt der Fotograf ins Gärtchen, da musst du bitte lachen, Viktor.
    Die Mutter macht mir eine Grimasse vor. Sie zieht die Mundwinkel weit auseinander und zeigt alle Zähne. Im Mund von meiner Mutter glitzert ganz schön viel Gold. Ich übe beim Zähneputzen vor dem Spiegel. Ich mache genauso eine Grimasse am nächsten Tag für den Fotografen, wie die Mutter sie mir vormacht. Ich kneife die Augen zusammen, ich reiße den Mund weit auf und lache.
    An dem Baum hängt auch eine Anzeige für den dicken Dim. Der ist doch schon lange tot. Der wirft sich letzten Winter in den Brunnen und bricht sich den Kopf, weil da gar nicht so viel Wasser drin ist. Ich finde ihn. Ich weiß, dass der dicke Dim immer zum Brunnen geht, wenn der welche von den Geistern sieht. Das erkläre ich dir später.
    Auf jeder Anzeige steht das Datum von heute. Unsere Geburtstage stehen da nicht. Die Schwestern kennen nur unseren Fundtag. Wir können uns nicht an unseren Geburtstag erinnern. Irgendwo auf dem Gelände von unserer Gemeinschaft muss jetzt auf jeden Fall ein ganzer Haufen Toter rumliegen, und einer macht diese Anzeigen und denkt, dass die Söhne Marias alle tot sind. Die Schwestern bereiten uns auf diesen Tag vor. Gott liebt uns, wie wir sind. Er liebt auch uns. Er hat uns seinen Sohn gegeben. Zu seiner Mutter beten wir. In ihrem Schoß weinen wir. Maria, o Maria. Der Junge ist ein alter Mann, wenn er stirbt. Wenn wir sterben, sind wir alle alt.
    Ich gehe in Bubkas kleinen Laden. Das Radio hinten auf dem Tresen ist an. Bubka ist nicht da. Der ist oft drüben beim Nachbarn, der den Männern die Haare schneidet. Ich gehe zum Kühlschrank und hole das Unterhemd raus. Im Radio läuft die Mittagsmesse aus dem Sehergebirge. Die sind schon kurz vor dem Abendmahl. Ich ziehe mir das kalte Unterhemd an. Ich nehme mir eine Flasche Fanta und trinke die aus. Wenn ich Bubka nach meinen Sachen frage, geht der immer in den Lagerraum. Der Schlüssel steckt. Der Raum ist zugestellt mit Getränkekisten. Ich finde fünf Pakete. Auf die ist in blauer Schrift das Wort CARE geschrieben. Ich kenne diese Kisten aus unserer Gemeinschaft. Wir bekommen eine große Lieferung und in jeder von den Kisten sind Dinge drin, die wirklich nützlich sind. Bananen, Knackbrot, Shampoo. Die Bananen essen wir. Knackbrot kennen wir nicht. Wir trauen uns nicht, es an die Hühner zu verfüttern. Haare müssen wir uns keine waschen. Das Beste an den Paketen ist das Paket selbst und das weiß jeder. Bis heute schleppen wir alles Mögliche damit rum, wenn wir auf dem Gelände arbeiten. Die Pakete sind sehr stabil.
    Ich öffne ein Paket. Ich finde darin das Foto, das versteinerte Stück Holz, den Grundig Yacht Boy 500 und den Zauberwürfel. Ich werfe noch ein paar Flaschen Fanta in die Kiste. Ich mache die anderen Carepakete auf. Orange Plastiktüten, die Bubka auch hinter dem Tresen hat. Die sind bis oben hin gefüllt mit Geldscheinen. Ich nehme überall eine Tüte raus und lege sie zu mir ins Paket. Ich gehe aus dem Lagerraum zur Kasse, mache sie auf und stopfe mir einen Bündel Scheine unter den Gummizug von der Sporthose.
    Ich stehe vor Bubkas kleinem Laden. Die Sonne brennt mir auf die nassen Wunden von meinen Schultern. Kurz bevor die Ladentür langsam hinter mir ins Schloss fällt, kann ich hören, wie im Sehergebirge die Mittagsmesse mit der Segnung von den vielen Pilgern zu Ende geht.
HIER IST DER JUNGE
    x   Dorf der Glücklichen
    x   Stadt der Brücken
    x   Sehergebirge
DIE GEBURT VON DEM JUNGEN
    Ich kann nur von dem erzählen, was ich weiß. Sicher ist, dass die Mutter extra in das Dorf der
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