Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
... Wie Gespenster in der Nacht

... Wie Gespenster in der Nacht

Titel: ... Wie Gespenster in der Nacht
Autoren: Emilie Richards
Vom Netzwerk:
war ein Irrgarten aus Schaltern und Wartezonen. Er überflog die großen Anzeigetafeln. Er war so spät, dass der Flug nicht einmal mehr aufgelistet war. In einer endlosen Schlange wartete er am Informationsschalter, um herauszufinden, zu welchem Gate er musste, dann joggte er im Zickzack durch Menschenmengen in Saris und mit Turbanen, in korrekten Anzügen und dürftiger Urlaubsgarderobe. Einen Teenager mit grünem Haar, das sich grässlich mit dem karierten Muster des Kilts und den kniehohen Cowboystiefeln biss, fragte er nach dem Weg. Der junge Mann zeigte in die Richtung, und im gleichen Augenblick sah Andrew auch schon die Frau, die allein in der entferntesten Ecke des Gates saß.
    Andrew blieb reglos stehen und schaute sie an. Das letzte Mal hatten sie sich gesehen, da war Fiona drei und er acht gewesen. Sie war die kleine Schwester, die er nie gehabt hatte, die Schwester, die ihm durch eine Tragödie und gleichgültige Erwachsene entrissen worden war. Über die Jahre hatte er immer wieder einmal versucht sich vorzustellen, wie sie aufwuchs. Durch Duncan hatte er ihre Entwicklung mitverfolgen können, hatte auch ab und zu ein Foto zu sehen bekommen. Doch nichts davon hatte ihn wirklich vorbereiten können.
    Nichts.
    Fiona sah auf, und ihre Blicke trafen sich. Von Poesie hielt er nicht unbedingt viel. Gold war Gold, und Braun war Braun. Doch während er auf sie zuging, erkannte er, dass sich in Fionas Augen diese beiden Farben auf einzigartige Weise vereinigten – strahlender Sonnenschein und bernsteinfarbenes Mondlicht. Sie blickte ihm entgegen. Blanke Nervosität stand ihr ins Gesicht geschrieben.
    „Andrew?“
    „Aye.“ Er verlangsamte seine Schritte, näherte sich ihr vorsichtig, wie man sich einem scheuen wilden Tier nähern würde. „Aye, ich bin Andrew. Und unendlich froh, dass du noch hier bist, Fiona.“
    Ihre Lippen verzogen sich zu einem gezwungenen Lächeln. Sie sprach die Worte stockend aus, so als müsse sie jede einzelne Silbe hinauspressen. „Wo hätte ich denn hingehen sollen?“
    Bedachtsam setzte er sich neben sie. Sie waren allein am Gate; eine Anzeigentafel informierte darüber, dass die nächste Maschine hier erst in zwei Stunden abfliegen würde. „Ich habe fast befürchtet, dass du auf dem Absatz kehrtmachen und dich in die nächste Maschine setzen würdest, die zurückfliegt.“
    Sie wandte das Gesicht ab, bot ihm den Blick auf ein Profil mit Stupsnase und einer Lockenmähne rötlich-goldenen Haars. „Ich habe mit dem Gedanken gespielt. Aber es ist eine weite Reise.“
    „Ich bin rechtzeitig losgefahren, mit viel Spielraum. Ehrlich. Aber dann war da dieser Unfall …“ Er wollte nicht darüber reden.
    Die Lockenpracht wirbelte durch die Luft. „Oh, das tut mir leid! Ist alles in Ordnung mit dir? Bist du verletzt?“
    „Nein. Ich kam hin, als es schon passiert war.“
    „Also war die Straße blockiert?“
    Das war das Wenigste gewesen. „Aye.“
    „Weißt du, ob …? Ist jemand …?“
    „Es war ein schlimmer Unfall.“ Er sah auf seine Hände hinunter, rot vom Schrubben, übersät mit Brandblasen und Aschepartikeln. Er verschränkte sie hinter dem Rücken, damit er sie nicht länger ansehen und sich an die Bilder erinnern musste. „Also, erzähl … Wie war der Flug? Alles glattgegangen? Haben sie dich auf der langen Reise anständig versorgt?“
    „Ich habe nichts gegessen.“
    „Warum nicht?“
    „Weil mir das Herz im Hals feststeckte und keinen Platz für irgendetwas anderes übrig gelassen hat.“
    Er überraschte sich selbst damit, dass er lachte. Hätte er vorher darüber nachgedacht, hätte er es nicht gewagt. Dabei wusste er, dass Fiona es todernst meinte. Der Flug hatte sie wahrscheinlich jedes Fünkchen Mut gekostet, das sie zusammenklauben konnte. Sein Lachen entlockte ihr ein Lächeln. Dieses Mal ein echtes Lächeln, eines, das ihn an die Mona Lisa denken ließ.
    „Ich weiß, es klingt lustig.“ Sie verzog das Gesicht, Sommersprossen tanzten über ihre Nase und Wangen. „Ich fürchte, du wirst feststellen, dass ich ein unerschöpflicher Quell an Belustigung bin.“
    „Bestimmt nicht.“ Er ernüchterte schnell. „Habe ich dir schon gesagt, wie froh ich bin, dich zu sehen?“
    „Tatsächlich?“
    „Du hast dich verändert, bist ein gutes Stück gewachsen. Aber du bist immer noch unsere Fiona.“
    „Bin ich das?“ Sie zuckte mit den Schultern. Die Bewegung ließ den Kragen ihrer hochgeschlossenen, langärmeligen Bluse an ihrem Hals hinaufrutschen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher