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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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können.
    Die entscheidende Frage war, ob sie den Inhalt des Buches verstan- den hatten. Wenn der Mensch gelernt hatte, die uralte Hütersprache, Prime, zu lesen, konnte das fatale Folgen haben. In dem Buch wurden nicht nur die Wohnorte und Besitztümer aller Hüter in Asien aufgelistet, sondern auch ihre familiären und finanziellen Verbindungen zu allen anderen Hütern auf der Welt offengelegt. Außerdem wurden die Orte und Zeitpunkte der übrigen, alle einhundert Jahre stattfindenden Kon- klaven genannt.
    Miriam musste ihre Artgenossen warnen.
    Eine Stunde nach Sonnenaufgang kamen Arbeiter in die Lagerhalle, und der Flughafen erwachte langsam zum Leben. Als Miriam sich in der Abfertigungshalle unter die Leute mischte, spürte sie, dass sie einen grausamen inneren Drang niederringen musste. Am liebsten hätte sie einige der Leute gepackt, ihnen die Köpfe abgerissen und mit der brutalen Rohheit ihrer Vorfahren aus den sprudelnden Hälsen ge- trunken.
    Vielleicht hatte sie Angst. Ein Hüter erlebte Angst als den Impuls an- zugreifen. Deswegen hatte ihre Mutter fauchend die Zähne gefletscht, als man sie – aber damit wollte sie gar nicht erst anfangen, nicht jetzt. Ihr brennender Hunger bewirkte, dass ihre Gelenke allmählich zu schmerzen begannen und ihre Haut immer bleicher wurde. Die tro- ckene, leichenartige Kälte, die sich im Gesicht eines hungrigen Hüters ausbreitete, raubte ihr den sonst mädchenhaft rosigen Teint.

»Bangkok« sagte sie zu der Frau am Thai-Airways-Schalter und holte eine Visa-Karte heraus, die auf den falschen Namen ausgestellt war, den Sarah ihr für die Reise zugedacht hatte. Eine Französin mit dem Namen ‘Marie Tallman’ war, aus den USA kommend, in Thailand eingereist und würde von hier nach Paris fliegen. Von dort würde Mi- riam Blaylock, eine amerikanische Staatsbürgerin, nach New York heimkehren.
    Sie ging in die überraschend elegante Erste-Klasse-Lounge. Eine Hostess trat auf sie zu. Miriam bestellte eine saure Limonade, dann setzte sie sich hin und zündete eine Zigarette an. Sie begann, sich ernsthaft Gedanken über ihr Hungerproblem zu machen. Sie hatte es zu lange unbeachtet gelassen, und nun würde sie sich noch vor ihrer Abreise aus Thailand Nahrung verschaffen müssen. Warum hatte sie nicht in New York daran gedacht? Sie hätte Sarah ins Veils schicken und sich von ihr irgendeinen Fremden mitbringen lassen können. Zu Hause hatte sie ihre Jagd auf ein simples und sicheres Verfahren re- duziert, das ihr die Beute gezielt in die Arme trieb. Sarah suchte geeig- nete Opfer und lockte sie ins Veils. Miriam verspeiste sie in einem ei- gens dafür umgebauten Kellerzimmer oder nahm sie mit nach Hause und dinierte dort.
    Sie schenkte ihnen ein wundervolles Ende. Ihre Opfer starben im Zu- stand höchster Extase.
    Sie zog gierig an ihrer Zigarette und stieß den Rauch durch die Nase aus. Wenn sie nicht bald frisches Blut bekam, würde sie träge werden und ihre Aggressivität verlieren. Dann würde sie irgendeinen schwäch- lichen Menschen finden und sich mit einem kärglichen Mahl zufrieden geben müssen. Es würde ihren Hunger höchstens für einige Tage stil- len, dann würde sie in Paris ein zweites Mal auf die Jagd gehen und sich erneut in Gefahr begeben müssen.
    Sie sollte schnurstracks nach New York heimkehren und die übrigen Hüter einfach zum Teufel wünschen. Vermutlich würden sie ihre Be- mühungen ohnehin nicht zu schätzen wissen.
    Aber das konnte sie nicht tun, nicht wenn das größte Desaster, das sie je erlebt hatte, über einen ganzen Kontinent gekommen war. Wes- halb waren von allen Hütern gerade die Asiaten vernichtet worden? Viele von ihnen waren mehr als zehntausend Jahre alt und dement- sprechend weise und vorsichtig. Wenn sie nicht auf der Jagd waren, rührten sie sich kaum, versteckten sich in ihren düsteren Behausungen und vertrieben sich monatelang die Zeit damit, ein Stück kunstvoll ge-

webten Stoff oder ein subtil glitzerndes Juwel anzustarren.
    Wenn Hüter sich unter ihre Herden begaben, regten sich die Men- schen im Schlaf, stöhnten mit dem heulenden Wind und klammerten sich ängstlich aneinander, ohne zu wissen warum.
    Sie hatten zahllose Menschenzeitalter vergehen sehen, hatten erlebt, wie Reiche aufstiegen und untergingen, hatten tausende von Men- schengenerationen zu Staub zerfallen sehen. Gerade die Asiaten hat- ten ihre Herden weitaus effektiver verwaltet als die übrigen Hütergrup- pen auf der Welt, hatten Völkerwanderungen
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