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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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und genau das hatte sie ihm anzubieten. O Gott im Himmel, er wollte sie so sehr.
    Sie schloss die Augen. Er sah Tränen hervorquillen. Er wusste, dass er kurz davor stand, von der einzigen menschlichen Frau, die ihn je- mals geliebt und die er kein einziges Mal geküsst hatte, getötet zu wer- den.
    Deswegen tat er es. Warum auch nicht? Warum nicht das Unmögli- che versuchen? In der Hoffnung, dass Miriam nicht damit rechnen würde, hechtete er Becky entgegen.
    Er hatte sich losgerissen, flog auf sie zu. Becky sprang zur Seite. Und plötzlich war er hinter ihr.
    Die beiden Frauen standen sich gegenüber. Miriam legte schützend die Hände auf ihren Bauch. Dann schrie sie. Es war der markerschüt- terndste Verzweiflungsschrei, den Paul je gehört hatte.
    Die Schlafzimmertür flog auf. Sarah und Leo stürmten herein, jede eine Magnum in der Hand.
    »Wir kriegen sie alle auf einen Schlag«, murmelte er zu Becky. In dem Augenblick, als sie abdrückte, nutzte die verzweifelte Miriam ihre immense Schnelligkeit, um ihr mitten ins Gesicht zu springen. Becky riss instinktiv die Waffe hoch – und das Splittergeschoss schlug mitten in die himmelblaue Zimmerdecke ein; Steinbrocken krachten herunter, und eine dichte Staubwolke füllte den Raum.
    Becky flog mit einem dumpfen Knall an die Wand des angrenzenden Arbeitszimmers. Aber sie war kein gewöhnliches Mädchen, sondern eine hervorragend ausgebildete Agentin, deswegen stand sie sofort wieder auf.
    Paul hatte die Waffe. Hinter Miriam standen Sarah und Leo mit ihren Magnums. Sein Finger legte sich um den Abzug; in wenigen Augenbli- cken würde er den Schuss abfeuern, der die drei Frauen in Hack- fleisch verwandelte.
    Doch dann hielt er inne; er fühlte sich plötzlich wie gelähmt. »Schieß schon«, brüllte Becky. » Drück endlich ab !«
    Die Uhr tickte. Sarah begann, sich langsam auf die linke Seite zuzu- bewegen. Er durchschaute ihren Plan: Sie wollte sich vor Miriam wer- fen und den Schuss abfangen.

» Drück ab !«
    »Bitte, Paul«, sagte Miriam.
    Er stand wie erstarrt da, war zu keiner Regung fähig, konnte nicht einmal den Finger rühren. Er sah nicht Miriam, sondern sein Baby, die- ses zarte, noch nicht völlig entwickelte Geschöpf, das ihn mit großen Augen angesehen hatte.
    Er hatte in seiner gesamten Berufslaufbahn nie ein Baby getötet, und er spürte, dass dies seine Grenze war. Dies war ein Mord, den er nicht begehen konnte.
    Sein Verstand suchte nach einer Möglichkeit, sein Herz gewinnen zu lassen. Und sein Verstand sprach mit der Stimme seines Vaters zu ihm ... oder vielleicht war es der Geist seines Vaters, der seinem Sohn die nötige Führung gab: ‘Wenn du dieses Kind tötest’, sprach die Stimme zu ihm, ‘werden mein Leben und mein Tod und all das Leid, das über unsere Familie kam, umsonst gewesen sein.’
    All die Jahrtausende des Kampfes auf Erden – die langsame Evolu- tion des Affen, das Erscheinen der Hüter mit ihren Züchtungen und ih- rem Hunger nach Blut und ihrer Beschleunigung der menschlichen Entwicklung – all das hatte zu diesem Augenblick geführt, zu der bren- nenden, nicht zu beantwortenden moralischen Frage, mit der er sich in diesem Augenblick konfrontiert sah.
    »Gib mir dir Waffe«, sagte Becky.
    Er gab sie ihr. Während er dies tat, trat Sarah Roberts vor. Ihr Ge- sicht war aschfahl. Sie hob die Magnum. Mit der Klarheit, die Men- schen in Extremsituationen überkommt, sah Paul eine Träne aus ih- rem linken Auge laufen und über ihre Wange rollen. Dann drückte sie ab; Becky drückte ebenfalls ab, und das Zimmer verwandelte sich in eine Höhle aus Schutt und Staub.
    Stille trat ein; nur das ferne Ticken einer Wanduhr war zu verneh- men. Vor ihnen lagen die zerfetzten Überreste von Sarah Roberts. Becky betrachtete sie kurz, dann trat sie über die blutige Leiche hin- weg.
    Die beiden anderen Frauen waren verschwunden. Paul und Becky rannten nach unten und entdeckten in der Küche eine offene Speise- kammertür.
    Von der Kammer führte ein Tunnel steil in die Tiefe. »Weißt du, wo er hinführt?«
    »Keine Ahnung.«
    »Mist. Und es gibt keine Karte?«

»Nein.«
    »Dann haben wir sie verloren.«
    »Für den Augenblick. Die Sache ist noch nicht vorbei, Mädchen.« Sie nahm die Waffe herunter. »Dieser Vampir muss dir viel bedeutet haben«, sagte sie.
    Er starrte in den finsteren Tunnel, in dem das Monster, das seinen Sohn in sich trug, verschwunden war. »Was hier geschehen ist, lässt sich nicht mit Worten beschreiben,
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