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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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Umrisse. Sie hielt die Luft an, denn was sie sah, war schlicht unfassbar. Ihre Haut spannte sich, ihre Mus- keln zuckten – die Raubkatze witterte Gefahr.
    Sie hob den roten Lederumschlag auf und hielt ihn in zitternden, ehr- erbietigen Händen. Vom Augenblick ihrer Geburt an bekamen Hüter beigebracht, dass die Bücher der Namen heilig waren. Ihre Spezies bezog aus diesen Büchern ihr gesamtes Wissen über sich, erfuhr, wer am Leben und wer gestorben war, erfuhr von ihren großartigen Leis- tungen und den Ereignissen ihrer Jahrtausende währenden Ge- schichte.
    Das rote Leder war unverwechselbar, genau wie die Inschrift in ihrer geliebten Muttersprache. Die Worte setzten sich aus Schriftzeichen zu- sammen, die kein Mensch auf der Welt entschlüsseln konnte: Die Na- men und Besitztümer der Hüter .
    Sie nannten sich Hüter, weil sie Herden hielten. Wäre der Rest des Buches nicht zerstört, hätten sich darin Auflistungen der Jagdreviere der asiatischen Clans gefunden und Festlegungen, wer wo welche

Menschenherde benutzen durfte.
    Sie strich mit den Fingern über das feine Leder. Es war aus der Haut eines Menschen gegerbt worden, als diese noch grobschlächtige, pri- mitive Kreaturen waren. Das erste dieser Bücher war dreißigtausend Jahre alt – selbst für einen Hüter lag dies lange zurück. Aber solange nun auch nicht. So hatte ihr Ur-Ur-Urgroßvater zum Beispiel noch die Schreie von Neandertalern nachahmen können. Tief in den Gewölben des Haupthorts in Ägypten wurden detailgetreue, bis zu ihren Ursprün- gen zurückreichende Wachsnachbildungen der menschlichen Gestalt aufbewahrt.
    Sie hockte sich vor den bauschigen Papierberg und versuchte ihn zusammenzupressen, ihn irgendwie in seine ursprüngliche Form zu bringen. Als sie die Buchseiten berührte, stürmte darunter ein ganzes Kakerlakenheer hervor. Sie strich eine zerknüllte Seite glatt, um zu se- hen, ob darauf noch etwas zu erkennen war.
    Dort, wo das Papier nicht mit offenbar menschlichen Fäkalien besu- delt war, hatten Kakerlaken die Tinte abgefressen. Sie legte die Seite behutsam auf den schmutzigen Boden zurück, so wie sie es mit dem Leichnam eines geliebten Freundes getan hätte.
    Sie machte einen letzten Rundgang durch den einstmals geheimen Versammlungsort und suchte in jeder Ecke und jedem versteckten Winkel, fand aber keine weiteren Buchseiten.
    Sie sah sich mit der zweifellos schrecklichsten Entdeckung ihres Le- bens konfrontiert. Einige der reichsten und ältesten Hüter waren Asia- ten gewesen. Es hatte mindestens sechzig von ihnen gegeben. Sie sank gegen das Gemäuer. Sollten dies Menschen getan haben, einfache, schwache, kleine Menschen?
    Hüter konnten von Menschen getötet werden – wie bei ihren Eltern geschehen –, aber so allumfassend konnte der Mensch sie nicht ver- nichten, niemals. Der Mensch gehörte ihnen!
    Sie ließ ihren Blick über die kahlen Wände schweifen und wurde sich mit aller Deutlichkeit der Tatsache bewusst, dass die asiatischen Hüter vernichtet worden waren. Hätte auch nur ein Einziger von ihnen über- lebt, wäre dieses Buch der Namen gerettet worden.
    Als sie die unfassbare Realität begriff, tat Miriam etwas, das ihr so selten passierte, dass sie sich mit ihren langen dünnen Fingern er- staunt an die Wangen fasste.
    Zwischen den staubigen Trümmern dieses entweihten Ortes, tief un- ter den betriebsamen Straßen Chiang Mais, vergoss ein Vampir bittere

Tränen.

2
    Nachtstück des Blutes
    Miriam kam es vor, als schliche das samlor in Zeitlupe durch die ver- lassenen, im strömenden Regen liegenden Straßen, während sie ent- nervt ihrem pochenden Herzschlag lauschte und zu wittern versuchte, ob Gefahr in der Luft lag.
    Was erwartete sie aufzuschnappen? Den säuerlichen Geruch einer Hüter-Leiche oder vielleicht das Schmieröl einer Polizistenwaffe? Wie sollte ein gewöhnlicher Polizist einen Hüter töten? Der bloße Ge- danke war absurd.
    Und doch war das asiatische Buch der Namen zerstört worden. Kein noch so gewalttätiger Streit zwischen Hütern hätte jemals zur Zerstö- rung eines solchen Buches geführt. Hüter stritten um Liebe und um Herden, doch selbst dies geschah nur äußerst selten und war niemals so schlimm gewesen. Selbst nicht in den Zeiten, als sie freimütig unter der Sonne gewandelt waren.
    Am liebsten hätte Miriam die Nacht unter einem hypnotisierenden Deckenventilator verbracht, eine prall gefüllte Opiumpfeife an den Lip- pen. Doch nach Jahrtausenden der Jagd auf die
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