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Whitley Strieber

Whitley Strieber

Titel: Whitley Strieber
Autoren: Der Kuss des Vampirs
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aufreißenden Wolken brach der Mond hervor. Ein Blitz tauchte den Spitzturm des Wat-Chedi-Luang-Tempels in grelles Licht. Wie schön und exotisch Chiang Mais Tempelanlagen wirkten. Sie war nur an die Straßenschluchten Manhattans gewöhnt.
    Ihr stieg wieder der Geruch des Fahrers in die Nase. Dieses Mal stellte sich ihr Körper auf die Nahrungsaufnahme ein, ihre Muskeln spannten sich für den Angriff, und in ihrem Mund bildete sich der Schleim, mit dem sie die Bissstelle betäuben würde.
    Sie nahm einen langen, letzten Zug von ihrer Zigarette. Wenn man das Blut seines Opfers mit einem kräftigen Ruck heraussaugte, bekam man zum Schluss noch einen nahrhaften Bodensatz obendrauf. »Sieh zu, dass du die Organsäfte bekommst, Kleines«, hatte ihre Mutter sie immer wieder ermahnt. »Das macht kräftige Knochen.« Es fiel ihr schwer, sich an ihre Mutter, Lamia, zu erinnern, und gleich- zeitig konnte sie sie nicht vergessen. Wenn Miriam sich von einem ge- liebten Menschen trennen musste, musste sie sich nur daran erinnern, was Menschen ihrer Mutter angetan hatten. Die Gefangennahme war völlig überraschend gekommen. Wenn Hüter schliefen, befanden sie sich in einem todesähnlichen Zustand. Sie waren völlig hilflos. Deswe- gen zogen sie sich zum Schlafen an geheime Orte oder – in jenen Ta- gen – in große, gut bewachte Paläste zurück.
    Lamia war von einem Mann verraten worden, den sie für einen Freund gehalten hatten. Anfangs war Graf von Holbein ein verlässli- cher Gefolgsmann gewesen. Aber dann hatte sich herausgestellt, dass er weniger ein unbedeutender Graf als vielmehr ein mächtiger Priester war und nicht Holbein hieß, sondern Vater Deitrich Muenster. Miriam war über die Dächer der kleinen Stadt geflohen, in der sie da- mals gelebt hatten. Es war ihr nicht gelungen, ihre komatöse Mutter mitzunehmen oder irgendwo zu verstecken. Miriam hatte geglaubt, sie entweder durch Bestechung oder mit roher Gewalt aus der Gefangen- schaft befreien zu können.
    Aber dazu hatten sie ihr keine Gelegenheit gegeben. Sie hatten La- mia gar nicht erst in den Kerker geworfen, hatten keine Zeit vergeudet. Als Mutter Lamia erwachte, fand sie sich gefesselt auf einem Scheiter- haufen wieder. Sie begriff sofort, was geschehen war. Aber trotz ihrer unbändigen Kraft war es ihr nicht gelungen, die Ketten zu sprengen oder den Holzpfahl umzustürzen.
    Mutter Lamia hatte mit hoch erhobenem Haupt auf dem für sie her-

gerichteten Scheiterhaufen gestanden, während ihre brennenden Haare Funken zum Himmel warfen. Sie hatte eine halbe Ewigkeit so dagestanden, denn Hüter starben erst, wenn ihr Blutfluss völlig zum Erliegen kam.
    Die Menschen hatten gejohlt, als sie zu schreien angefangen hatte, und als sie merkten, dass Lamia so ungewöhnlich langsam starb, hatte es ihnen sogar noch mehr Spaß gemacht. Mutter war 1761 in einem Dorf nahe Dresden als Hexe verbrannt worden. Sie war die leben- digste und wundervollste Person gewesen, die Miriam je gekannt hatte. Sie hatte einen ausgeprägten Sinn für Humor besessen. Sie hatte das Abenteuer und den Tanz geliebt. Mutter hatte Miriam ver- schiedenste Instrumente beigebracht – Trompete, Posaune, Bratsche ... und natürlich ihre geliebte Viola da gamba. Miriam hatte singen ge- lernt und dazu so viele Menschensprachen, dass sie irgendwann auf- gehört hatte, sie zu zählen. Die altertümlichen Sprachen, darunter Su- merisch, Ägyptisch und Zolor, waren wahre Kunstformen gewesen. Sie waren vom Griechischen mit seinen erhabenen Verben und vom Latei- nischen – das irgendwie steif wirkte – verdrängt worden. Englisch war eine höchst praktische Sprache. Von den modernen Sprachen waren Französisch und Mandarin-Chinesisch diejenigen, die zu sprechen Mi- riam am meisten gefiel.
    Leider hatte sie nie Thai gelernt, und deswegen war sie in diesem Land im Nachteil. »Beeil dich gefälligst, du schwachköpfige Kreatur«, herrschte sie den Fahrer auf Englisch an. Er fuhr schneller. Es be- durfte keiner gemeinsamen Sprache, um sich verständlich zu machen; ihr Tonfall genügte.
    Überall im Tempel-Distrikt erhoben sich prachtvolle Spitztürme. Das Viertel strahlte einen altertümlichen Zauber aus, denn auch für ihre Rasse war es ein heiliger Ort. Schon vor Äonen waren sie hier zusam- mengekommen, vor zehntausend Jahren, vor fünfzehntausend ... als die Welt noch ihr Spielzeug war – und die Menschen eine stumme Rasse von Ochsen. Sieh dir nur das nach all der Zeit noch intakte Straßenpflaster an,
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