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Whisper Island (01) - Sturmwarnung

Whisper Island (01) - Sturmwarnung

Titel: Whisper Island (01) - Sturmwarnung
Autoren: Elizabeth George
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das gut sein?«
    »Es würde jetzt zu lange dauern, dir das zu erklären. Vertrau mir einfach, ja?« Sie sah ihn ernst an, als sie das sagte, und Seth war sicher, dass sie eine Menge Dinge wusste, die sie ihm nicht verriet. Darüber dachte er einen Moment nach und kam dann zu dem Schluss, dass es in ihrem Leben vermutlich ebenso viele offene Rechnungen gab wie in seinem, und dass einiges davon eben mit Derric Mathieson zu tun hatte.
    Sie nickte, als ob er all das laut ausgesprochen hätte, was ihm einen Schauer über den Rücken jagte. »Na gut, dann gehen wir rein. Du bleibst hier, Gus!« Er kurbelte das Fenster halb herunter, damit der Hund die Gerüche von Coupeville schnuppern konnte.
    Als sie zu Derrics Zimmer kamen, stand die Tür auf, aber es war kein Besuch da. Es war das erste Mal, dass Seth den Jungen sah, seit er gestürzt war. Er sah sich im Zimmer um und bemerkte all die verwelkten Blumen, die längst hätten weggeworfen werden können. Er wollte sich schon nützlich machen und damit beginnen, doch stattdessen zwang er sich, zu Derric hinüberzusehen. Der Junge war an Schläuche und Katheter und tausend andere Sachen angeschlossen. Seth sah, wie der Sportler, den er so sehr beneidet hatte, nun völlig auf die Hilfsbereitschaft anderer angewiesen war.
    Becca ging zum Bett und sagte über die Schulter: »Kannst du bei der Tür stehen bleiben? Und falls jemand reinkommt, sagst du ihm, dass er kurz warten soll, okay?«
    Seth nickte. Er machte die Tür zu und fragte Becca, was sie jetzt vorhatte. Er dachte an Dornröschen und den Prinzen, der sie wach geküsst hatte, und er dachte an Schneewittchen und ihren Prinzen, und dass jedes Mädchen anscheinend nur darauf wartete, von ihrem Prinzen geküsst und gerettet zu werden. Dabei war das gar nicht möglich. Jeder musste sich selbst retten.
    Becca sah ihn wieder an und Seth bemerkte ihren wissenden Blick. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, aber plötzlich hatte er grenzenloses Vertrauen zu ihr.
    Er sah zu, wie Becca die Dose auf den Tisch neben Derrics Bett stellte und öffnete. Sie ging die Briefe durch und suchte einen aus, den sie aus dem Umschlag nahm. Sie faltete ihn auf, strich ihn glatt und legte ihn Derric – mit der beschriebenen Seite nach oben – auf die Brust, sodass sie ihn lesen konnte. Dann nahm sie ein gerahmtes Bild vom Tisch und hielt es fest. Mit der anderen Hand nahm sie Derrics schlaffe Hand und umschloss seine Finger mit ihren. Sie beugte sich über das Bett, sodass sie den Brief sehen konnte, und begann ihm vorzulesen.
    Seth hörte nur den ersten Teil, »Liebe Freude«, und dann gelegentlich einen Satzfetzen wie »die Leichtathletikmannschaft dieses Jahr in der Schule« und »spricht immer gerne mit mir über das Friedenskorps« und »Goss Lake zum Zeitfahren«. Er hörte zu und versuchte, sich in Geduld zu fassen, aber das war nicht so leicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Aktion irgendwas bringen würde, und das wollte er Becca gerade sagen, als sie zum Satz »vermisse dich so sehr, Freude« kam und danach »dich herholen« vorlas, und das Unvorstellbare geschah.
    Derrics Füße bewegten sich. Dann führte er die freie Hand zur Brust. Sie wanderte über den Brief und blieb auf ihm liegen, sodass Becca nicht mehr weiterlesen konnte. Aber das machte nichts, weil sie schon am Ende des Briefes angekommen war, denn sie hatte »liebender Bruder« und »Derric« gesagt. Seinen Namen hatte sie gesprochen, als würde sie ihn rufen, und Seth begriff, dass sie genau das getan hatte. Sie hatte ihn gerufen.
    Seth spürte, wie sich sein Herz in seiner Brust zusammenzog. »Becca«, sagte er. »Er wacht auf.«
    »Ja«, sagte sie, und dann sprach sie zu Derric: »Ich habe die Briefe im Wald gefunden, Derric. Ich weiß darüber Bescheid. Jetzt verstehe ich.«
    Da sah Seth, wie Derrics Augenlider flatterten. Er hob mühsam den Kopf, um Becca anzusehen. Seine Lippen öffneten sich und seine Stimme klang kratzig, weil er so lange nicht gesprochen hatte. Kurz bevor Seth aus dem Raum stürmte, um zum Schwesternzimmer zu laufen, hörte er Derric sprechen. Und was er sagte, hätte eindeutiger nicht sein können.
    Derric sagte: »Wo kam dieser blöde Hund her, Becca?«
    Sie waren alle so dumm gewesen, dachte Seth.
    Seths Großvater benutzte gerne die Redewendung »den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen«, aber Seth wusste, dass auf ihn und die meisten anderen genau das Gegenteil zugetroffen hatte. Sie hatten nämlich den Baum vor lauter
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