Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Werwelt 01 - Der Findling

Werwelt 01 - Der Findling

Titel: Werwelt 01 - Der Findling
Autoren: Robert Stallman
Vom Netzwerk:
spätes Kaninchen zu schlagen. Danach will ich wieder zurück und ein kleiner Junge sein.
    Ich schleiche mich zur Tür, beschnüffle den Knauf aus kaltem Porzellan, der die Form eines Eis hat, drehe ihn unbesorgt mit einer Tatze. Abgeschlossen. Ich spähe in den Spalt zwischen der Tür und dem Rahmen. Ein kurzes Stück Eisen verbindet beide. Mein Zorn darüber, daß mein schöner Plan durchkreuzt ist, wächst, und gleich werde ich durch eines der Fenster springen oder die lumpige dünne Tür zertrümmern.
    Warte! Warte! Aber mein Körper will nicht warten. Ich muß mich jetzt verwandeln, wenn ich nicht alles zunichte machen will. Noch während ich mein Selbst zu einem Punkt zusammenziehe und den Namen sage, sehe ich ein verblassendes Bild meiner selbst, wie ich unter Krachen splitternden Holzes durch die Türfüllung breche, die Treppe hinunterspringe, um die Ecke sause, um durch Eßzimmer und Küche zu preschen und triumphierend mitten durch das Fliegengitter der Hintertür zu schießen, in der ein riesiges Loch zurückbleibt, dessen Ränder, nach außen gebogen, meinen Fluchtweg weisen, hinaus in die kühle graue Morgendämmerung. Ich verwandle mich.
    Die Kälte schlägt gegen Roberts Haut. Keine andere Möglichkeit, als wieder ins Bett zu kriechen und zu schlafen, bis der Bauer und seine Frau aufstehen. Die Fensterscheiben schimmern grau im frühen Morgen. Hinten im Stall neben dem Garten regten sich verschlafen die Hühner. Er hörte, wie eines zu Boden fiel wie ein weicher Sack und kurz gackerte. Ein junger Gockel mühte sich, heiser zu krähen und wurde von einem älteren Hahn übertönt, der den Morgen mit einem langen, vollendeten Jubelruf begrüßte. Das Krähen wich in immer weitere Fernen zurück, und Robert schlief wieder ein.
    Als er das nächste Mal erwachte, lag Sonnenlicht auf der Wand über seinem Kopf. In wärmenden Strahlen fiel es durch das goldene Rechteck des Fensters, und die Tür stand offen. Eine Weile blieb er unter den Decken liegen, während er aus der Küche das Gemurmel des Bauern und seiner Frau hörte, die miteinander sprachen. Dann stand er leise auf und benützte den Nachttopf, den er unter dem Bett fand. Danach huschte er zum Treppenabsatz und wartete. Sie sprachen über ihn.
    »Was sonst? Ein Waisenhaus vermutlich«, sagte der Bauer.
    »Ja, wir können ihn doch nicht einfach behalten. Das weißt du«, versetzte die Frau. »Ein Kind ist schließlich was anderes als ein junger Hund, der sich verlaufen hat.«
    »Nein.« Es folgte eine lange Pause. Der Bauer gab einen komischen Laut von sich, wie ein Pusten klang es. »Wir wollten doch immer einen Jungen.«
    »Martin!« Die Stimme der Frau klang belustigt und bestürzt zugleich. »Deine Töchter haben dir zwei gute Schwiegersöhne ins Haus gebracht, und du bist doch auch stolz auf sie.« Die Frau lachte jetzt. »Und zwei Enkelinnen – zu viele Frauen, Martin?«
    »Ich hab’ unsere Mädchen lieb, die großen wie die kleinen. Und sie haben wirklich gut geheiratet, aber trotzdem.« Er machte wieder eine Pause. »Du weißt, was ich meine.«
    »Aber wir wissen doch gar nicht, aus was für einer Familie er kommt. Vielleicht ist er einer Landstreicherbande davongelaufen oder hat sich aus einem Zigeunerlager davongemacht.«
    »Nein. Ich glaube, daß er ausgesetzt worden ist. Wenigstens hab’ ich den Eindruck, daß er schon seit ein paar Tagen allein herumirrt und gar nicht richtig weiß, was ihm passiert ist.«
    »Jetzt rätst du doch nur. Du weißt doch überhaupt nichts über den armen kleinen Burschen.« Sie schien nachdenklich. »Er hat sich sicher in unserem Heuboden verkrochen, weil er gefroren hat. Ein Glück, daß wir dieses Jahr so einen warmen Mai haben. Im letzten Mai wär’ der arme kleine Kerl glatt erfroren.«
    »Hier in der Gegend sind keine Zigeunerlager. Ich sag dir, er ist ausgesetzt worden wie ein Hund. Er hatte ja solchen Hunger, daß er ein ganzes Nest voll Taubeneier gegessen hat und vielleicht sogar die Taube dazu. Das glaube ich jedenfalls.«
    »Du lieber Himmel, Martin! Eine Taube soll er gegessen haben?«
    »Als ich in den Heuboden raufkam, war das Taubennest da oben vollkommen zerfetzt, und in der Ecke, wo der Junge sich versteckt hatte, lagen noch Teile von dem Vogel herum. Da muß ein Kind schon ziemlichen Hunger haben, daß es so was macht.«
    »Martin Nordmeyer! Der Kleine soll eine Taube umgebracht und gegessen haben? Da hat sich ein Wiesel raufgeschlichen und sich den Vogel geholt. Also wirklich, das ist
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher