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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Autoren: Fjodor Dostojewski
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Geliebten erscheint und staunt, an ihrer Seite den wiedergeborenen Freund zu finden. Der schrecklichsten Gewalt solcher Augenblicke erinnern wir uns unwillkürlich bei Dostojewski, denn er verfährt wie Eros: er taucht seine Gestalten in den Urgrund des Daseins hinab, ins Grenzenlose, Uferlose, wo noch nichts Form hat, in die tiefe Nacht, und wenn sie dort erloschen sind, hebt er sie drüben wieder empor und läßt es wieder tagen.
    Gestalten ganz scharf abzuheben, fest einzugrenzen und in ihrer ausschließenden Einzigkeit darzustellen, dann aber einem Schicksale zuzutreiben, das ihre Form zersprengt und sie wieder in das Element auflöst, bis auf einen letzten Faden, an dem sie sich zu sich selbst zurückziehen, ist Dostojewskis Art. Damit sagt man schon, daß er das Problem unserer Zeit darstellt. Während wir nämlich eben noch in Persönlichkeit schwelgten, jeder seiner Besonderheit stolz, anders als die anderen, in sich verbohrt, ist uns plötzlich darin zu enge geworden, wir finden uns verarmt, wir fürchten auszutrocknen, und dieselbe Leidenschaft, mit der wir uns eben noch immer mehr einzogen und verengten, ergreift uns jetzt nach Ausdehnung, Enteignung und Ergießung. Wir spüren ein stärkeres Leben in uns, als unsere Gestalt fassen kann, zu ihm wollen wir aus ihr hinaus, über den geringen Teil von uns hinweg, in dem wir gefangen liegen. Das kündigen jene seltsamen, überall aufleuchtenden Zeichen einer neuen Religiosität an; Züge des dreizehnten und des vierzehnten Jahrhunderts hat unsere Zeit, mit ihrer irren Sehnsucht, die nach jeder Mystik greift, um Expansion, Explosion, Effusion. Aber solche Zeiten, wo jeder aus sich wegstürzt, um drüben ins wahre Wesen unterzutauchen, gewahren schaudernd, eben wenn sie das Wesen zu berühren glauben, daß sie ins Wesenlose fallen: dieser Schwindel erfaßt uns schon! Indem nun Dostojewski niemals größer ist, als wenn seine Gestalten auf der Flucht aus ihren Grenzen, von ihrem Inhalt überströmt, in ihm verschwindend, sich selbst entsunken, plötzlich aus dem Element wieder emporgespült und in ihr armes Ich zurückgeworfen werden, läßt er uns das tiefste Geheimnis des irdischen Zustands ahnungsvoll berühren, nämlich daß alles Leben größer ist als jede Gestalt, in die es sich drängt, daß es aber nur an Gestalten erscheinen kann, daß es also, die Gestalt verlierend, damit auch sich selbst verlieren muß, daß alles Werden immer wieder ins Sein flüchtet, daß alles Lebendige zur Gestalt verdammt bleibt, daß wir niemals »hinüber« gelangen können, ohne uns und unsere ganze Welt zu vernichten, und daß unsere wirkliche Existenz am innersten Rande des Ichs ist, noch vom Ich gehalten, aber den Blick schon im Abgrund – dieses Schweben ist der Mensch. Alle lebenssicheren Zeiten haben das im inneren Gebrauch. So geben die Griechen dem Apoll den Dionysos mit. So kehrt der heilige Franziskus aus Verzückungen zu seinen zärtlich gehegten Tieren heim. So genießt der spanische Dichter in mönchischer Einsamkeit alle Lust und Laune der verschränkten Sündenwelt; eines seiner Stücke nennt er »In diesem Leben ist alles Wahrheit und alles Lüge«, eben in diesem Gefühl, daß es ein Leben am Rande ist, mit dem Fuß noch im Trug, doch schon hinüber gebeugt. Kant hat das dann formuliert, Goethe hat es bewußt gelebt. Es geht nur den Menschen immer wieder verloren, und erst wenn die Not am höchsten ist, findet es einer wieder. Höher kann unsere Not nicht mehr steigen und siehe, da steht schon Dostojewski für sie bereit.
    Ich weiß nicht, was Dostojewski für die Russen bedeutet. Ich weiß nur, was er im ganzen der Weltliteratur ist: der letzte (denn er war ja jünger wie Wagner), der in seiner Kunst dargestellt hat, was es mit unserem Leben ist und wie wir möglich sind. Tolstoi ist ja, solange er in der Kunst blieb, niemals ins Innere des Lebens eingedrungen, und als er es fand, nicht mehr in den irdischen Trug zurückgekehrt; er war immer entweder ganz hier oder ganz dort, niemals in der Schwebe dazwischen, die den ganzen Menschen gibt. Kunst in diesem höchsten Sinne genommen als Darstellung der Zwienatur des Menschen, sind Wagner, Whitman und Dostojewski unsere letzten Künstler gewesen. Und mit einer notwendigen und unvermeidlichen Übertreibung kann man sagen, daß Dostojewski der Dichter ist, an dem allein jetzt Europa sich wiederfinden und aufrichten kann.
    Was vom Individuum gilt, gilt ebenso für die Nation. Auch in ihr verkürzt und verengt
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