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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Autoren: Fjodor Dostojewski
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daß auch bei seinen anderen Menschen, solchen nämlich, die keineswegs wie jene sozusagen im Urwesen stecken geblieben, sondern ganz persönlich ausgeprägt sind, fast immer ein Augenblick kommt, wo auch sie genau so wirken wie jene, wo ihnen ihr gleichsam nur vorgeschobenes Individuum wieder weggezogen wird und auch von ihnen nichts mehr als der Urstoff übrig bleibt. (Dadurch wirkt ja zum Beispiel die letzte Wanderung und das Ende des Stepan Trophimowitsch, des albernen Intellektuellen in den Dämonen, so überwältigend groß.)
    Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit. In unseren großen Augenblicken, den Augenblicken der Liebe, der Selbstaufopferung, der Entrückung aus unserer irdischen Enge wird das jedermann inne. Wie könnten wir uns sonst auch in anderen wiederfinden, oft besser als in uns selbst? Wie könnte der Dichter, der Schauspieler, ja jeder Künstler sich so tausendfältig immer wieder in neue Gestalten verwandeln, hätte er sie nicht in sich? Er hört sie sprechen, er sieht sie handeln, und sie sprechen anders als er erwartet hat, sie handeln anders als er will, sie werden anders als er sie geplant hat: sie zwingen ihn, Empfindungen und Handlungen geschehen zu lassen, deren er selbst nicht fähig ist. Aber woher nimmt er solche ihn selbst überraschende und überwältigende Empfindungen und Handlungen, wenn nicht aus sich, aus seinem eigenen unbekannten, tief verborgenen Selbst? Und wie könnte sonst irgendein Mensch an einem anderen teilnehmen, wie ihn verstehen wollen, wie sich anmaßen, jemals anderen gerecht zu werden, wenn er nicht an irgendeiner Stelle selbst schon eben jener andere wäre? Nur indem uns ein anderer Mensch dort berührt, wo wir dasselbe sind wie er, können wir mit ihm fühlen, können wir ihn erkennen, können wir ihn richten.
    Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit. Indem er sich nun aber formt, sich Grenzen steckt, sich auf einen festen Punkt zusammenzieht, muß er unter seinen eigenen Möglichkeiten wählen, er muß absondern, was er festhalten will, er muß entlassen, was er von seiner Fülle nicht brauchen kann; aus ihr holt er sich heraus wie der Bildhauer aus dem Stein die Gestalt. Jede Gestalt ist ein Verlust, ist Verarmung und Verengung. Aus der ganzen Menschheit wird ein einzelner Mensch gemacht, irgendein Teil unterwirft sich die anderen, diesem Teil wendet sich nun alle Kraft zu. In den Mythen aller Völker ist die Erinnerung an ein Paradies lebendig geblieben, an ein goldenes Zeitalter, das noch keinen Haß unter den Menschen, keinen Krieg kennt, an die Seligkeit jener Urzeit, da jeder Mensch noch die ganze Menschheit war. Und in allen Völkern ist immer noch die Sehnsucht nach einer Wiederkehr jener hellen Jugendzeit lebendig, als ob es der Mensch irgendwie tief in sich wüßte, daß er zwar, um Gestalt anzunehmen, dem ganzen Menschen entsagen, sich absondern, sich in einen Teil, ein bloßes Stück von sich, ein Fragment zusammenziehen muß, daß aber dies für ihn bloß eine Prüfung ist, die er überwinden wird, um dann mit gesammelter Kraft, mit errungener Gestalt wieder zum ganzen Menschen zurückzukehren. Dies meint der ewig die Menschheit sanft begleitende, in starken Zeiten ungeduldig hervorbrechende Glaube an das dritte Reich der Verheißung.
    Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit. Aber aus diesem Stoff holt er nun seine Gestalt hervor, sie scheint ihm des Lebens höchste Lust und letzter Sinn, doch gerade sie will er keinem anderen gewähren, von jedem anderen fordert jeder, daß er nicht bloß eine einzelne Gestalt der Menschheit, sondern die ganze Menschheit sei. Wir messen unseren eigenen Wert daran, wieviel von uns wir zur Gestalt bringen, und wir messen jeden anderen daran, wie wenig er von der ganzen Menschheit verliert. Persönlichkeit achten wir an uns am höchsten, und Persönlichkeit lassen wir an anderen nicht gelten. Jeder will selbst ein einziger sein, ein einmaliger Mensch, wie noch keiner je war und keiner je mehr sein wird, jeder rühmt sich seiner Eigenheit und hegt sie, jeder liebt an sich, was ihn von den anderen unterscheidet, das macht ihn stolz und froh, aber eben das haßt jeder an anderen. Man gefällt anderen bloß gerade soviel, als man ihnen gleicht, und alle Weltklugheit läuft ja bloß darauf hinaus, daß wir die anderen nicht merken lassen, worin wir anders sind als sie, und eben das also verbergen lernen, was uns an uns selbst im stillen für das Höchste, für das Liebste gilt, ja wodurch und wofür allein wir
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