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Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)

Titel: Werke von Fjodor Dostojewski (Illustrierte) (German Edition)
Autoren: Fjodor Dostojewski
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zu leben glauben. Nichts empört den erwachenden Jüngling so, als daß man ihm nicht gönnen will, dieser ganz besondere, nie dagewesene, bloß in diesem einen Exemplar vorhandene Mensch zu sein, zu dem er sich bestimmt fühlt, und gegen nichts wehrt er sich dabei so, als wenn auch noch ein anderer ebenso besonders und einzig sein will. Erst wer älter wird, vieles erlebt hat und anfängt, an seiner Weisheit irre zu werden, kommt allmählich darauf, daß die anderen vielleicht ganz recht haben, ihm seine lieben Eigenheiten zu verdenken, ja, daß vielleicht bloß dieser ihr Widerstand allein ihn bewahrt hat. Goethe läßt den Geistlichen, zu dem Wilhelm Meister seinen Harfenspieler bringt, über »die Mittel, vom Wahnsinn zu heilen«, sagen: »Es sind eben dieselben, wodurch man gesunde Menschen hindert, wahnsinnig zu werden. Man errege ihre Selbsttätigkeit, man gewöhne sie an Ordnung, man gebe ihnen einen Begriff, daß sie ihr Sein und Schicksal mit so vielen gemein haben, daß das außerordentliche Talent, das größte Glück und das höchste Unglück nur kleine Abweichungen von dem Gewöhnlichen sind, so wird sich kein Wahnsinn einschleichen, und wenn er da ist, nach und nach wieder verschwinden ... Es bringt uns nichts näher dem Wahnsinn, als wenn wir uns vor anderen auszeichnen, und nichts erhält so sehr den gemeinen Verstand, als im allgemeinen Sinne mit vielen Menschen zu leben.« Einen Geistlichen läßt Goethe dies aussprechen, denn es ist eine christliche Wahrheit: dem Christentum ist jeder Mensch heilig, weil er die ganze Menschheit enthält, und jeder ist ihm sündig, weil er von der Menschheit zu sich abirrt, und jeder kann erlöst werden, wenn er aus sich wieder zur ganzen Menschheit zurückkehrt, wenn er, wie es Heinrich Suso nennt, »sich entbildet von der Kreatur«, wenn er »sich entwird«. Der tiefste Begriff des Christentums ist der der Erbsünde: dadurch, daß ein Mensch geboren wird, ist er schon schuldig, dadurch, daß er sich absondert und für sich sein will (wie es bei Heinrich Suso heißt: der Teufel hat Eva verlockt, daß sie »etwas sein wollte«); Gott muß Mensch werden und selbst das Menschenleid auf sich nehmen, das Leid der Individuation, um die Menschenschuld abzubüßen, aber seitdem verlischt die Hoffnung nicht mehr, daß der Mensch sich überwinden, von sich erlösen und so mit Gott vereinen kann.
    Jeder Mensch enthält die ganze Menschheit, freilich weiß er es aber nicht, denn nur einen geringen Teil von uns haben wir inne. Erziehung, Gewohnheit, Beispiel, Umgebung, Beruf, die Nötigung, andere über uns zu täuschen, ja auch uns selbst, der Wunsch, mit den Forderungen, die die Welt an uns stellt, übereinzustimmen, das Bedürfnis, uns bequem handhaben zu können, alles wirkt zusammen, um uns eine besondere Rolle zuzuweisen und uns so darin zu bestärken, als wären wir wirklich nichts anderes mehr. Nur ein starker Schlag des Schicksals, ungeheures Glück oder tiefstes Leid, reißt zuweilen für einen Augenblick unser Inneres auf und läßt uns vor dem Getümmel von Menschen erschaudern, das wir sind. Dann erkennen wir, einen Augenblick lang, was alles in uns versammelt ist, unfaßlich für das winzige Ich, das wir uns herausgefischt haben, erkennen es und – wenden uns ab; wir können den furchtbaren Anblick nicht ertragen, wir wenden uns ab und verkriechen uns in unserer Enge wieder. Wie ein solches großes Schicksal tritt Dostojewski seine Gestalten an und sprengt ihre Form, reißt ihre Tiefen auf und stößt sie in das Chaos zurück, dem sie sich entwunden haben; er stellt den Urzustand wieder her.
    Im Gebet geschieht es, daß der einzelne sich zerfließen fühlt, und so spiegeln Dichter der Entrückung solches Verschweben aus der Individuation wider: der heilige Franziskus, wenn er die Sonne grüßt, oder Novalis in den Hymnen an die Nacht, Wagner im Tristan. Aber bei Dostojewski wirkt es mit einer grauenhaften, fast nicht mehr zu ertragenden Gewalt, weil diese Gestalten, die er auflöst, in Erz gegossen sind. Er hat den höchsten Sinn für Gestalt, die höchste plastische Kraft, das höchste Gefühl für die absurde Verknüpfung, die einen Menschen eben zu diesem einen, einmaligen, in aller Vergangenheit und aller Zukunft beispiellosen Menschen macht. Denn das, woran wir einen erkennen, das »Unterschiedliche«, wie Meister Eckhart sagt, ist immer etwas Unbeschreibliches, unseren Sinnen Unfaßliches, unserem Verstande durchaus Absurdes. Wenn wir einen in seine
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