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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Autoren: Ian Morris
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sich die Erwartungen der meisten Experten, wenn es um die Wiederankurbelung der Weltwirtschaft geht, nicht auf die Vereinigten Staaten oder Europa, sondern auf China. 2008 war |21| China Austragungsort der bombastisch organisierten Olympischen Spiele, und die ersten beiden Taikonauten verließen im All für einen Außenbordeinsatz ihr Raumschiff. Sowohl China als auch Nordkorea verfügen über Atomwaffen, und westliche Strategen fragen sich besorgt, wie sich die Vereinigten Staaten mit der zunehmenden Machtposition Chinas arrangieren werden. Die Frage, wie lange der Westen seine Vormachtstellung noch wird halten können, brennt uns auf den Nägeln.
    Geschichtswissenschaftler taugen bekanntlich so wenig als Propheten, dass sie sich in den meisten Fällen weigern, überhaupt über die Zukunft zu sprechen. Je länger ich mir Gedanken darüber gemacht habe, warum der Westen die Welt regiert, umso klarer wurde mir, dass der Hobbyhistoriker Winston Churchill die Geschichte besser verstanden hat als die meisten seiner Kollegen vom Fach. »Je weiter man zurückblicken kann«, hat er einmal gesagt, »umso weiter wird man vermutlich vorausschauen.« In diesem Sinne meine ich (auch wenn Churchill meine Schlussfolgerungen möglicherweise nicht gefallen hätten), dass wir eine ziemlich genaue Vorstellung davon gewinnen, wie sich die Dinge im 21. Jahrhundert entwickeln werden, wenn wir verstehen, warum der Westen eine solche Vormachtstellung innehat.
    Natürlich bin ich nicht der Erste, der solche Überlegungen anstellt. Die Frage, warum der Westen die Welt regiert, kursiert schon seit gut 250 Jahren. Vor dem 18. Jahrhundert machte sich kaum jemand Gedanken darüber, weil es damals, ehrlich gesagt, eine ziemlich unsinnige Frage gewesen wäre. Als Intellektuelle in Europa anfingen, sich ernsthaft mit China zu befassen, waren sie vor allem zutiefst beeindruckt von der ehrwürdigen Geschichte und Kultur des Landes; und das mit gutem Grund, wie die wenigen Bewohner der östlichen Welt bestätigten, die dem Westen überhaupt Beachtung schenkten. Manche Beamten in China äußerten Bewunderung für die raffinierten Uhren, die teuflischen Geschütze und die präzisen Kalender des Westens, fanden aber ansonsten wenig an diesen uninteressanten Fremden, dem nachzueifern sich gelohnt hätte.
    Hätten die chinesischen Kaiser des 18. Jahrhunderts gewusst, dass französische Philosophen wie Voltaire ein Loblied auf sie sangen, so wären sie sicherlich der Meinung gewesen, genau das sei es, was französische Philosophen tun sollten.
    Doch fast von dem Augenblick an, als Rauch aus den Fabrikschornsteinen in den Himmel über England aufzusteigen begann, merkten die Intellektuellen Europas, dass sie ein Problem hatten. Gemessen an anderen Problemen hätte es Schlimmeres geben können: Wie es aussah, übernahmen sie die Macht in der Welt, wussten aber nicht, warum.
    Revolutionäre wie Reaktionäre, Romantiker wie Realisten überschlugen sich in Europa mit wilden Spekulationen, Mutmaßungen und Theorien zu dem Thema. Am besten nähert man sich der Frage, wie der Westen zu seiner Vormachtstellung kam, indem man die verschiedenen Ansätze zuerst in zwei grobe Denkrichtungen unterteilt: Eine sieht die Entwicklung als »langfristig determiniert«, die zweite |22| sieht sie als »Produkt kurzfristiger Zufallsereignisse«. Auch wenn sich nicht jeder Gedanke eindeutig einer der beiden Richtungen zuordnen lässt, hilft die Unterscheidung doch, sich ein genaueres Bild vom Ganzen zu machen.
    Allen Theorien der »langfristigen Determiniertheit« ist eine Vorstellung gemein: dass es nämlich einen entscheidenden Faktor gebe, der dafür verantwortlich ist, dass seit undenklichen Zeiten ein gravierender und unabänderlicher Unterschied zwischen Westen und Osten existiert und dass die industrielle Revolution nur im Westen stattfinden konnte. Ganz und gar nicht einig sind sich die Vertreter dieser Denkrichtung allerdings darüber, was dieser Faktor ist und wann er seine Wirkung zu entfalten begann. Die einen verweisen auf natürliche Gegebenheiten wie klimatische und topographische Bedingungen oder die Verfügbarkeit von Ressourcen; andere sehen weniger greifbare Aspekte wie Kultur, Politik und Religion als entscheidenden Faktor. Erstere definieren »langfristig« tatsächlich als sehr langen Zeitraum. Sie haben das Ende der letzten Eiszeit vor 15   000 Jahren im Blick oder gehen sogar noch weiter zurück. Für Letztere beginnt die Langfristigkeit ein bisschen
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