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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Autoren: Ian Morris
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gleichzuziehen.
    Unter den westlichen Vertretern der Langfristtheorie gab es allerdings einige, die überzeugt waren, dass der ferne Osten zu rein gar nichts in der Lage sei. Die überlegene Kultur des Westens sei nicht die einzige Erklärung für dessen Vorherrschaft, da Kultur auf dem Boden materieller Gegebenheiten wächst. Vielleicht war es im Osten zu heiß oder es gab zu viele Krankheiten, als dass sich dort eine gleichrangige Kultur hätte entwickeln können; oder es gab dort einfach zu viele Menschen, die alle erzielten Überschüsse aufzehrten, dadurch einen höheren Lebensstandard unmöglich machten und so verhinderten, dass etwas Vergleichbares hätte entstehen können wie die liberale, zukunftsweisende westliche Gesellschaft.
    |24| Theorien der langfristigen Determiniertheit hatten in allen politischen Lagern Konjunktur, die wichtigste und einflussreichste aber kam von Karl Marx. Etwa zur gleichen Zeit, als britische Soldaten Looty befreiten, vertrat Marx, der damals eine China-Kolumne für die
New York Daily Tribune
schrieb, die Ansicht, die Vorherrschaft des Westens sei auf politische Faktoren zurückzuführen. Jahrtausende lang, erklärte er, seien die ostasiatischen Staaten so zentralistisch strukturiert und mächtig gewesen, dass der Fluss der Geschichte praktisch zum Stillstand gekommen sei. Die europäische Gesellschaft habe sich vom klassischen Altertum über den Feudalismus zum Kapitalismus entwickelt, und proletarische Revolutionen würden in Kürze den Kommunismus erzwingen, der Osten aber sei im Bernstein des Despotismus eingeschlossen und könne darum den fortschrittlichen Weg des Westens nicht beschreiten. Als die Geschichte dann nicht ganz den Lauf nahm, den Marx vorausgesagt hatte, modifizierten seine kommunistischen Nachfolger (allen voran Lenin und seine Anhänger) seine Aussagen und behaupteten nun, der Osten könne möglicherweise durch eine revolutionäre Avantgarde aus seinem Dornröschenschlaf herausgerissen werden. Das aber sei nur möglich, lautete die leninistische Botschaft weiter, wenn es den Revolutionären gelänge, die alten verkrusteten Gesellschaften zu zerschlagen – koste es, was es wolle. Diese Theorie ist nicht die einzige Ursache für das Grauen, das Mao Zedong, Pol Pot und die Kims in Nordkorea über ihre Völker brachten, doch ihr Teil der Verantwortung dafür wiegt schwer.
    Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch wand sich der Westen unter dem Eindruck immer neuer Fakten, die, von Historikern präsentiert, nicht recht zum Langfristmodell passen wollten, sodass sich die Verfechter dieser Theorie häufig gezwungen sahen, ihr Gedankenkonstrukt den neu gewonnenen Erkenntnissen anzupassen. Beispielsweise bestreitet heute kein Mensch mehr, dass China, als in Europa die große Zeit der Seefahrer und Entdecker gerade erst zu dämmern begann, mit seinen Schiffen bereits die Küsten Indiens, Arabiens, Ostafrikas und möglicherweise sogar Australiens angesteuert hatte. 1* Als der Eunuch Zheng He 1405 von Nanjing nach Ceylon segelte, führte er eine Flotte von fast 300 Dschunken an. Darunter waren Tankschiffe, die Trinkwasser mit sich führten, und gewaltige so genannte Schatzschiffe mit wasserdichten Schotten und hoch entwickelten Ruder- und Signalanlagen. Zu der 27   000 Mann starken Besatzung gehörten 180 Ärzte und Pharmazeuten. |25| Zum Vergleich: Als Christoph Kolumbus 1492 von Huelva aus in See stach, bestand sein Verband aus drei Schiffen mit 90 Mann Besatzung. Sein größtes Schiff hatte einen Rumpf, der dreißigmal weniger Wasser verdrängte als Zhengs Schatzdschunken, und es war mit 27 Metern Länge kürzer als deren Hauptmast und nur knapp doppelt so lang wie ihr Ruder. Kolumbus hatte weder einen Trinkwassertanker noch befanden sich echte Ärzte in seiner Begleitung. Zheng verfügte über Magnetkompasse und kannte den Indischen Ozean so gut, dass er eine sechseinhalb Meter lange detaillierte Seekarte anfertigen konnte; Kolumbus wusste kaum, wo er war, geschweige denn, wohin ihn seine Reise führte.
    Das mag all jenen zu denken geben, die meinen, die westliche Führungsrolle sei schon in ferner Vergangenheit festgeschrieben worden, doch es gibt eine Reihe wichtiger Bücher, die argumentieren, Zheng Hes Leistungen stünden keineswegs im Widerspruch zur Theorie der langfristigen Determiniertheit, man müsse die Sache nur ein wenig differenzierter betrachten. Der Wirtschaftshistoriker David Landes beispielsweise greift in seinem beeindruckenden Buch
Wohlstand und Armut
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