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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Autoren: Ian Morris
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später, vor 1000 Jahren vielleicht, im Mittelalter, oder vor 2500 Jahren, zur Zeit des griechischen Philosophen Sokrates und des großen chinesischen Lehrmeisters Konfuzius. Allen gemein ist jedoch die Überzeugung, dass die Briten, die sich in den 1840er Jahren den Weg nach Shanghai freischossen, und die Amerikaner, die zehn Jahre später die Japaner zwangen, ihre Häfen zu öffnen, nur als unwissentliche Handlanger in einer Folge geschichtlicher Ereignisse auftraten, die schon Jahrtausende zuvor in Gang gesetzt worden waren. Sie alle würden meine Idee, dieses Buch mit der Gegenüberstellung der Albert-in-Beijing- und Looty-in-Balmoral-Szenarien zu beginnen, als schlichtweg albern bezeichnen. Königin Victoria musste zwangsläufig den Sieg davontragen: Der Gang der Dinge war unausweichlich – festgeschrieben seit unzähligen Generationen.
    Rund 200 Jahre lang, von Mitte des 18. bis Mitte des 19. Jahrhunderts, stützten sich fast alle Erklärungsversuche für die Vorherrschaft des Westens auf die Theorie der langfristigen Determiniertheit. Am beliebtesten war die Vorstellung von der kulturellen Überlegenheit der Europäer gegenüber dem Rest der Welt. Seit dem Untergang des Römischen Reiches hatten die meisten Europäer ihre Wurzeln auf das Neue Testament zurückgeführt und sich vor allem als Christen definiert. Nun aber, im Bemühen um eine Erklärung dafür, dass der Westen die Herrschaft über die Welt gewann, kam ihnen noch eine andere Abstammungslinie in den Sinn. Vor 2500 Jahren, so argumentierten sie, hätten die Griechen eine einzigartige Kultur der Vernunft und der Freiheit des Denkens und Handelns begründet und Europa damit auf einen anderen (besseren) Weg gebracht als den Rest der Welt. Natürlich habe auch der Osten seine Denker gehabt, räumten sie ein, aber deren Lehren seien viel zu konfus, zu sehr den Traditionen und überkommenen Hierarchien verhaftet, als dass sie mit dem westlichen Gedankengut hätten Schritt halten können. Aus all dem zogen die meisten Europäer den |23| Schluss, die Tatsache, dass sie alle anderen besiegen konnten, sei ihrer kulturellen Überlegenheit geschuldet.
    Um 1900 übernahmen viele fernöstliche Intellektuelle, die sich mit der wirtschaftlichen und militärischen Überlegenheit des Westens auseinandersetzten, diese Theorie, legten sie aber auf ihre eigene Weise aus. So entstand innerhalb von 20 Jahren, nachdem Admiral Perry in der Bucht von Tokio eingelaufen war, eine Aufklärungsbewegung, deren Anhänger die klassischen Schriften der französischen Aufklärung und des englischen Liberalismus ins Japanische übersetzten und dafür plädierten, durch Demokratisierung, industrielle Entwicklung und Gleichstellung der Frauen mit dem Westen Schritt zu halten. Manche gingen so weit, Englisch als Amtssprache in Japan einführen zu wollen. Das Problem, erklärten Intellektuelle wie Fukuzawa Yukichi in den 1870er Jahren, sei langfristiger Natur: Die japanische Kultur sei weitgehend durch China geprägt, und China habe in ferner Vergangenheit einen vollkommen falschen Weg eingeschlagen. Und darum sei Japan nun allenfalls »halb zivilisiert«. Dennoch sei die Situation nicht ausweglos, meinte er. Japan müsse nur China in die Schranken weisen, um zur vollkommenen Zivilisation zu gelangen.
    Chinas Intellektuelle ihrerseits hatten niemanden außer sich selbst, den sie hätten in die Schranken weisen können. In den 1860er Jahren etablierte sich eine so genannte Bewegung der Selbststärkung, deren Botschaft lautete, kulturell sei in China im Grunde genommen alles in Ordnung, das Land müsse lediglich ein paar Dampfschiffe bauen und ein Arsenal ausländischer Waffen anlegen. Das, so stellte sich heraus, war allerdings ein Irrtum. 1895 unternahm eine modern ausgerüstete japanische Armee einen gewagten Überraschungsangriff gegen eine chinesische Festung, erbeutete die darin gelagerten ausländischen Waffen und richtete diese anschließend gegen die Dampfschiffe der Chinesen. Es reichte also nicht, die richtigen Waffen zu haben. Das Problem ging viel tiefer. Um 1900 folgten chinesische Intellektuelle längst dem Beispiel der Japaner, indem sie wirtschafts- und evolutionstheoretische Schriften aus dem Westen übersetzten. Wie Fukuzawa waren sie der Ansicht, dass die westliche Vorherrschaft zwar langfristig entstanden, aber keineswegs unabänderlich sei: China müsse sich lediglich von seiner Geschichte verabschieden, dann sei das Land ebenfalls in der Lage, mit dem Westen
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