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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Autoren: Ian Morris
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der Nationen
die bekannte These auf, dass Krankheiten und die demographische Entwicklung Europa immer wieder einen Vorteil gegenüber China verschafft hätten, gibt ihr jedoch einen eigenen Anstrich, indem er hinzufügt, die enorme Bevölkerungsdichte habe eine zentralistische Staatsführung in China begünstigt und die Anreize für die Regierenden vermindert, von Zheng Hes Reisen zu profitieren. Da die chinesischen Kaiser in ihrer Position unangefochten waren, sorgten sie sich eher darum, dass bestimmte Gruppen wie Kaufleute zu Wohlstand und Einfluss kommen könnten, als darum, sich selbst weitere Reichtümer anzueignen. Und sie waren mächtig genug, allem gefährlichen Treiben ein Ende zu setzen. Das große Zeitalter der chinesischen Entdeckungsfahrten war vorüber, als in den 1430er Jahren die kaiserlichen Schiffe stillgelegt und später vermutlich auch Zheng Hes Aufzeichnungen vernichtet wurden.
    In seinem Klassiker
Arm und Reich
vertritt der Biologe und Geograph Jared Diamond ähnliche Überzeugungen. Vor allem geht es ihm in diesem Buch darum zu erklären, warum sich die ersten Zivilisationen innerhalb eines transkontinentalen Streifens entwickelten, der zwischen China und dem Mittelmeerraum auf den gleichen Breitengraden verläuft. Daneben erläutert er aber auch, dass Europa seiner Ansicht nach deshalb in der heutigen Welt mehr Einfluss besitzt als China, weil es kleinere Königreiche aufgrund der geographischen Aufteilung des Kontinents in viele Halbinseln und der daraus folgenden politischen Zergliederung leichter hatten, sich gegen Möchtegerneroberer aller Art zu behaupten. Chinas bogenförmiger Küstenverlauf hingegen begünstigte eine zentrale Staatsmacht gegenüber vielen kleinen Provinzregierungen. Diese politische Einheit wiederum machte es den Kaisern des 15. Jahrhunderts möglich, Expeditionen wie die Seereisen des Zheng He zu unterbinden.
    Im zersplitterten Europa hingegen konnte ein Monarch nach dem anderen sich weigern, Kolumbus’ aberwitziges Abenteuer zu finanzieren, und es fand sich |26| doch immer noch ein nächster, den er um das Geld dafür angehen konnte. Hätten Zheng so viele Wege offen gestanden wie Kolumbus, so wäre Hernán Cortés 1519 in Mexiko möglicherweise auf einen chinesischen Gouverneur gestoßen, nicht auf den unglückseligen Montezuma. Aber allen Determiniertheitstheorien zufolge war diese Möglichkeit aufgrund von seuchenbedingten, demographischen und geographischen Faktoren ausgeschlossen.
    Neuerdings vertritt jedoch manch einer die Ansicht, dass Zhengs Expeditionen und auch andere geschichtlich belegte Ereignisse ganz und gar nicht zur Theorie der langfristigen Determiniertheit passen. Schon 1905 zeigten die Japaner, dass asiatische Staaten Europa auf dem Schlachtfeld das Fürchten lehren konnten, als sie das Russische Reich besiegten. Nachdem Japan 1942 die Westmächte fast gänzlich aus dem pazifischen Raum vertrieben hatte, schwenkte das Land nach einer vernichtenden militärischen Niederlage 1945 postwendend um und entwickelte sich zu einer wirtschaftlichen Großmacht. Seit 1978 geht China, wie jeder weiß, einen ähnlichen Weg. 2006 überholte China die Vereinigten Staaten als Spitzenreiter beim CO 2 -Ausstoß, und selbst in den finstersten Tagen der Finanzkrise im Jahr 2008 verzeichnete China ein Wirtschaftswachstum, von dem westliche Staaten auch in den besten Jahren nur träumen können. Möglicherweise müssen wir unsere Fragestellung ein wenig abändern und nicht danach fragen,
warum
der Westen die Welt regiert, sondern danach,
ob
der Westen die Welt regiert. Und wenn wir diese Frage mit Nein beantworten, scheinen sämtliche Determiniertheitstheorien ziemlich sinnlos zu sein, weil sie in ferner Vergangenheit nach Erklärungen für eine westliche Vorherrschaft suchen, die es gar nicht gibt.
    Solche Verunsicherungen haben zur Folge, dass westliche Historiker eine ganz neue Theorie entwickelt haben, die erklärt, warum der Westen einmal die Welt regiert hat, jetzt jedoch im Begriff ist, seine Vorherrschaft zu verlieren. Ihr Erklärungsmodell bezeichne ich als Theorie der »kurzfristigen Zufallsereignisse«. Die Argumente solcher Kurzfristmodelle sind im Allgemeinen komplizierter als die der Langfristtheorie, und entsprechend viele Auseinandersetzungen gibt es auch innerhalb dieses Lagers. Aber in einer Hinsicht sind sich alle Vertreter der Zufallstheorie einig: Das meiste von dem, was im Determiniertheitsmodell behauptet wird, ist falsch. Der Westen war nicht
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