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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Autoren: Ian Morris
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seit Urzeiten dazu bestimmt, die Welt zu beherrschen; erst nach 1800 u. Z., am Vorabend der Opiumkriege, zog der Westen vorübergehend am Osten vorbei, und selbst das verdankte sich zum großen Teil einer Folge von Zufällen. Das Albert-in-Beijing-Szenario ist überhaupt nicht albern. Genauso hätte es sich abspielen können.
    Alles eine Frage des Zufalls
    Orange County in Kalifornien ist eher für konservative Politik, gepflegte Palmen und seinen Langzeiteinwohner John Wayne (nach dem der Lokalflughafen |27| benannt ist, obwohl er es hasste, wenn die Maschinen über den Golfplatz hinwegdonnerten) bekannt als für kühne wissenschaftliche Theorien, aber in den 1990er Jahren wurde der Bezirk zum Epizentrum des weltgeschichtlichen Zufallsmodells. Drei Professoren der University of California, Irvine, – die Geschichtswissenschaftler Roy Bin Wong und Kenneth Pomeranz sowie der Soziologe Feng Wang 1* – sind die Autoren dreier grundlegender Werke, in denen sie die These vertreten, dass es in fast jeder Hinsicht noch bis ins ausgehende 19. Jahrhundert weit mehr Übereinstimmungen zwischen Osten und Westen gegeben habe als Unterschiede: ob nun in Ökologie oder Familienstrukturen, Technik und Industrie oder Finanzen und staatlichen Institutionen, Lebensstandard oder Verbrauchervorlieben.
    Wenn sie damit richtig liegen, ist es viel schwerer zu erklären, warum nicht Albert nach Beijing, sondern Looty nach London gebracht wurde. Einige Vertreter der Zufallstheorie wie der unkonventionelle Wirtschaftwissenschaftler André Gunder Frank (der mehr als 30 Bücher über diverse Themen von der Vor- und Frühgeschichte bis zur lateinamerikanischen Finanzwirtschaft geschrieben hat) sind der Meinung, der Osten sei ursprünglich eher für eine industrielle Revolution prädestiniert gewesen als der Westen, wenn nicht ein paar Zufallsereignisse den Lauf der Geschichte verändert hätten. Europa war, so lautet Franks These, nichts weiter als eine »Halbinsel am Rande einer sinozentrischen Welt« 3 . Um sich die Märkte Asiens zu erschließen, wo der wahre Reichtum wartete, versuchten sich Europäer mit blutigen Kreuzzügen einen Weg durch den Nahen Osten zu bahnen. Als das misslang, steuerten ein paar Abenteurer wie Kolumbus das Reich der Mitte über den westlichen Seeweg an.
    Auch das ging schief, weil Amerika im Weg war, aber Franks Auffassung nach begann sich mit Kolumbus’ Irrtum die Stellung Europas im Weltgefüge zu verändern. Im 16. Jahrhundert stand die chinesische Wirtschaft in voller Blüte, aber es herrschte ein steter Mangel an Silber. Amerika strotzte von Silber, und so reagierten die Europäer auf die chinesische Nachfrage damit, dass sie die amerikanischen Eingeborenen zwangen, 150   000 Tonnen des kostbaren Metalls aus den Bergen Perus und Mexikos herauszuschlagen. Ein Drittel davon landete in China. Silberexport, Skrupellosigkeit und Sklaverei brachten, um Frank zu zitieren, »Europa einen Platz im Dritte-Klasse-Abteil des asiatischen Wirtschaftszuges« ein, aber es musste noch einiges mehr passieren, bevor der Westen »China aus der Lokomotive vertreiben konnte« 4 .
    Frank zufolge verdankte sich der Aufstieg des Westens letztendlich weniger dem Unternehmungsgeist der Europäer als dem »Niedergang des Ostens«, der um 1750 einsetzte. Es begann damit, dass die Silbervorräte knapper wurden. Das |28| löste in China eine politische Krise aus, stärkte aber im Westen den Anreiz zu Neuerungen. Da den Europäern das exportierbare Silber ausging, mechanisierten sie ihre Produktionsstätten, um die asiatischen Märkte mit anderen Waren zu erobern. Auch das Bevölkerungswachstum nach 1750 wirkte sich auf die beiden entgegengesetzten Seiten Eurasiens unterschiedlich aus: Während es in China zur Polarisierung des Reichtums führte, politische Krisen auslöste und Reformen verhinderte, brachte es in Großbritannien einen willkommenen Nachschub an billigen Arbeitskräften für die wachsende Zahl von Fabriken mit sich. Während der Osten verfiel, erlebte der Westen die industrielle Revolution, die von Rechts wegen in China hätte stattfinden müssen. Und weil sie sich in Großbritannien ereignete, erbte der Westen die Welt.
    Nicht alle Vertreter der Kurzfristtheorie teilen Franks Ansichten. Der Soziologe Jack Goldstone beispielsweise (der ein paar Jahre an der kalifornischen Universität Davis gelehrt und für die Vertreter der Kurzfristtheorie den Begriff »California School« geprägt hat) meint, bis etwa 1600 hätten Osten
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