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Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden

Titel: Wer regiert die Welt? – Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden
Autoren: Ian Morris
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Guangzhou auf dem Weg zum Prüfungsort in die Hand gedrückt hatte. Es enthielt eine Zusammenfassung der biblischen Geschichte – und war, wie Hong feststellte, der Schlüssel zu seinem Traum. Bei dem Bruder, der ihm in seinem Traum erschienen war, handelte es sich ganz offensichtlich um Jesus, und damit stand fest, dass er, Hong, Gottes chinesischer Sohn war. Gemeinsam mit Jesus hatte er die Teufel und Dämonen aus dem Himmel verjagt, und nun fühlte er sich in Gottes Auftrag berufen, auch die Erde von ihnen zu befreien. Auf der Grundlage einer Weltsicht, in der sich christlich-protestantisches und konfuzianisches Gedankengut mischten, rief er ein »Himmlisches Reich des höchsten Friedens« aus, unter dessen Banner sich unzufriedene Kleinbauern und Rebellen aller Art scharten. Diesem bunten Haufen gelang es 1850, die gegen sie anrückenden kaiserlichen Truppen zurückzuschlagen, woraufhin Hong, Gottes Willen folgend, radikale gesellschaftliche Reformen einführte. Er begann, den Landbesitz umzuverteilen, stellte Frauen den Männern rechtlich gleich und schaffte sogar die Praxis des Füßebindens ab.
    Während sich Anfang der 1860er Jahre die Nordamerikaner im ersten modernen Krieg der Weltgeschichte gegenseitig mit schweren Geschützen und Repetiergewehren niedermetzelten, gingen die Chinesen im letzten traditionellen Krieg der Weltgeschichte mit Säbeln und Spießen aufeinander los und taten es ihnen gleich. Und die traditionelle Kriegführung erwies sich, was die blutigen Gräuel betrifft, als der modernen eindeutig überlegen. Zwanzig Millionen Menschen fanden, vor allem durch Hunger und Krankheiten, den Tod, westliche Diplomaten und Generäle machten sich die Kriegswirren zunutze und dehnten ihren Einflussbereich in Asien weiter nach Osten aus. Auf der Suche nach neuen Anlaufplätzen zum Nachladen von Kohle für die Schiffsroute zwischen China und Kalifornien erzwang der US-amerikanische Flottillenadmiral Matthew Perry 1854 die Öffnung japanischer Häfen. 1858 sah sich Kaiser Xianfeng, der Sohn Daoguangs, zu weitreichenden Handelskonzessionen gegenüber Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten gezwungen. Verständlicherweise erbost über die ausländischen Teufel, die seinen Vater vernichtet hatten und nun seinen Krieg gegen Hongs Truppen zu ihrem Vorteil nutzten, versuchte Xianfeng, diese neuen Verträge mit allerlei Ränken zu umgehen, doch als die Briten und Franzosen merkten, dass der Kaiser Zicken machte, brachten sie ihn mit überzeugenden Argumenten zur Räson: Sie marschierten in einer anglofranzösischen Strafexpedition in Beijing ein, legten den prachtvollen kaiserlichen Sommerpalast in Schutt und Asche und ließen Xianfeng, der einen unrühmlichen Rückzug in eine seiner ländlichen Ferienresidenzen angetreten hatte, wissen, dass sie es mit der Verbotenen Stadt genauso machen könnten, wenn ihnen der Sinn danach stünde. Xianfeng gab sich geschlagen. Noch gründlicher am Boden zerstört, als es sein Vater je gewesen war, weigerte er sich fürderhin standhaft, sein Refugium zu verlassen oder je wieder mit einem Staatsbeamten zu reden. Er nahm Zuflucht zu Drogen und sexuellen Ausschweifungen und starb nur ein Jahr später.
    |19| Wenige Monate nach Xianfeng segnete auch Prinz Albert das Zeitliche. Er, der jahrelang gepredigt und die britische Regierung zu überzeugen versucht hatte, dass durch die offenen Abwassergräben Seuchen und Krankheiten in London verbreitet wurden, starb aller Wahrscheinlichkeit nach an einer Typhuserkrankung, die er sich infolge der katastrophalen sanitären Verhältnisse im Schloss Windsor zugezogen hatte. Und was die Sache noch trauriger machte: Just in dem Augenblick, als Albert sein Leben aushauchte, weilte Victoria, von den neuesten Errungenschaften der Klempnerei ebenso begeistert wie ihr königlicher Gemahl, auf dem stillen Örtchen.
    Der großen Liebe ihres Lebens beraubt, versank Victoria in tiefer Schwermut. Doch ihre Einsamkeit war nicht vollkommen. Sie teilte sie mit einer der kuriosesten Raritäten, die britische Offiziere bei der Plünderung des kaiserlichen Sommerpalastes in Beijing erbeutet hatten: einem Pekinesen-Hündchen, das Victoria in Anspielung auf seine Herkunft Looty nannte, was auf Deutsch soviel wie »Kriegsbeute« heißt.
    Alles ist längst festgeschrieben
    Warum schlug die Geschichte den Weg ein, auf dem Looty nach Balmoral gelangte, wo er an Victorias Seite ergraute, und nicht jenen anderen, der Albert zum Studium der
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