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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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ist abgebrannt, sage ich.
    Meine Mutter nickt, ja, es ist abgebrannt, aber ich war bestimmt schon zwanzig, als mir das endlich klar wurde, und sie hat es, glaube ich, bis zuletzt nicht kapiert. Ich bin jedenfalls meine ganze Kindheit und Jugend hindurch das arme, blasse Flüchtlingskind geblieben, dafür hat sie gesorgt, sie hat nichts anderes zugelassen, sie hat mir ihr eigenes Unglück übergestülpt. Wenn du wüsstest, wie oft ich mir eine andere Mutter gewünscht habe.
    Marie auch, denke ich und meine ihre Stimme zu hören, du brauchst dir bloß vorzustellen, dass du nicht ihre Tochter bist, und schon geht es dich nichts an, denk dir jemand aus, ich habe tolle Mütter, sag ich dir.
    Warum hast du mir das nie erzählt, frage ich meine Mutter, ich habe nichts davon gewusst.
    Sie stellt eine Gegenfrage: Hättest du es denn hören wollen? Du hattest doch nur Augen und Ohren für deine Omi, du hättest mir doch kein Wort geglaubt. Solange sie lebte, warst du noch zu klein, um es zu verstehen, und nach ihrem Tod hättest du doch nur gedacht, ich würde dich nachträglich gegen sie aufhetzen wollen, und hättest es mir erst recht übel genommen.
    Wieder schauen wir uns an, aber diesmal ist es kein Kampf, ich habe das Gefühl, meine Mutter zum ersten Mal wirklich zu sehen. Habe ich immer nur an ihr vorbeigeschaut?
    Sie hat es ja auch nicht böse gemeint, fährt sie fort, so war sie nun mal, aber sie hat mich erdrückt, sie hat mich klein und schwach gemacht mit ihren Warnungen vor der bösen Welt. Und mit ihrer Religion. Immer hat sie mit der Hölle gedroht und Gott sieht alles und kennt die geheimsten Gedanken, welches Kind kann solchen Ansprüchen genügen? Ich konnte es jedenfalls nicht. Sie hat es geschafft, dass ich immer Angst hatte, immer ein schlechtes Gewissen, ich kann mich wirklich nicht erinnern, dass sie mal mit mir gelacht hätte.
    Wer morgens lacht und mittags singt, am Abend in die Hölle springt, sage ich.
    Meine Mutter lacht, ich lache auch, und als wir uns erneut anschauen, sind wir, glaube ich, beide verblüfft, fast erschrocken über das verschwörerische Lachen, das uns auf einmal zu Komplizen macht.
    Und die armen Seelen, sage ich, immer die armen Seelen, die haben ihr keine Ruhe gelassen.
    Was bedeutet das, arme Seelen?, fragt Ricki.
    Ach, Ricarda, sagt meine Mutter, Sie haben ja keine Ahnung, was für ein Glück Sie hatten, wenn Sie das nicht wissen. Die armen Seelen sind die Seelen von Verstorbenen, die einerseits in ihrem Leben zu viel gesündigt haben, um gleich in den Himmel zu kommen, andererseits aber auch nicht schlecht genug sind für die Hölle. Für sie muss man beten und Messen lesen lassen, besonders wenn es um die Seelen naher Verwandter geht. Für meine Mutter war das vor allem ihre früh verstorbene Schwester, sie hat nie aufgehört, für sie zu beten und an ihrem Todestag eine Messe lesen zu lassen. Als Buße für ihre Schwester nahm sie jeden Schmerz auf sich, und Schmerzen hatte sie genug, als ihr Rheuma immer schlimmer wurde. Einmal hat sie von ihrer Schwester geträumt und mir am nächsten Tag den Traum haarklein erzählt. Ihre Schwester saß vor einem riesigen Berg aus Salz, einem Muglberg, sie hatte einen kleinen Löffel in der Hand und klagte, siehst du, dieses ganze Salz muss ich essen. Danach war es mit dem Beten für die armen Seelen besonders schlimm. Das musstet ihr nicht mehr, Anne, das habe ich ihr verboten, davor wollte ich euch beschützen.
    Aber vor ihren Geschichten hast du uns nicht beschützen können, sage ich, die haben wir auch noch abgekriegt.
    Nein, davor konnte ich euch nicht beschützen, aber was hätte ich machen sollen, sie hatte doch nur mich.
    Sie hatte nur ihre Tochter, denke ich, viele Jahre lang hatte sie sonst niemanden und später hatte sie zusätzlich noch uns, ihre Enkelinnen, das hat sie offenbar etwas sanfter gemacht, das und das Alter, aber glücklich war sie nie, sie hat die Angst vor dem Leben nie verloren, auch nicht die Angst vor dem Tod, heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen.
    Eine Frau hat vom Leben nichts anderes zu erwarten als Schmerzen, sage ich, davon war sie überzeugt, Schmerzen zu haben gehört zum Frausein, die Periode, Sexualität, Geburt, und bei ihr war es noch das Rheuma.
    Vergiss nicht ihre Balglich, sagt meine Mutter, sie hatte solche Ballen an den großen Zehen, dass ihr immer die Füße wehtaten, egal welche Schihlich sie anhatte.
    Sie hat alle Schmerzen
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