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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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aufgegeben hatte. Sie saß auf mir und sagte, du, immer nur du, sonst nichts, aber mehr war auch nicht nötig, ich wusste, dass sie eigentlich meinte, du bist schuld.
    Dabei stimmt das nicht, ich bin nicht schuld, was kann ich dafür, dass sie unter keinem guten Stern geboren wurde, was geht mich ihr Stern an, wie kommt sie überhaupt auf die Idee, mein Stern wäre besser gewesen als ihrer, ich bin mir da jedenfalls gar nicht sicher. Schuld war ich vielleicht an etwas anderem, obwohl ich das Ganze heute für ein albernes Theater halte, für kindische Spinnerei, zumindest tagsüber, wenn ich mich ablenke, wenn ich sie längere Zeit nicht gesehen habe, aber in meinen Träumen ist das ganz anders, in meinen Träumen spielt sie Katz und Maus mit mir und gewinnt immer. Außerdem bleibt sie nie lange weg, nur ein paar Tage, eine Woche oder zwei, höchstens drei, dann taucht sie aus heiterem Himmel wieder auf und ist präsenter als je zuvor.
    Heute Morgen, beim Laufen am Mainufer, lief sie plötzlich vor mir her, schmal, hochbeinig und ein bisschen staksig, genau so, wie ich selbst laufe, und ich erkannte sie sofort an ihren kurzen, knallroten und gegelten Stachelhaaren.
    Ich erinnere mich genau, es war vier Tage nach ihrem sechzehnten Geburtstag, als sie plötzlich mit diesen kurzen, roten Igelhaaren nach Hause kam. Unsere Mutter schimpfte, weil sie sowieso immer schimpfte und vermutlich froh war, endlich einen Grund für ihren angestauten Ärger zu haben, und als Marie nicht reagierte und ihr Gesicht nur diesen trotzigen, herausfordernden Ausdruck zeigte, als würde sie sagen, ihr könnt mich alle mal, wurde sie noch wütender. Doch dann war ihre Wut plötzlich verpufft, und sie fing an zu jammern, deine schönen Haare, und Marie zuckte nur mit den Schultern und sagte, über Geschmack lässt sich nicht streiten. Unser Vater war der Einzige, der zu ihr hielt, er sagte, ich finde es gar nicht so schlecht, soll sie sich doch die Haare färben, wenn sie will, sie muss sich schließlich selbst gefallen, nicht uns.
    Mich hat keiner nach meiner Meinung gefragt, ich hätte auch nicht gewusst, was ich antworten sollte, denn ich war neidisch, nur neidisch, weil sie sich so etwas getraut hatte und damit durchkam, wie sie immer mit allem durchkam, und ich war wütend, weil sie es wieder mal geschafft hatte, die vorher einigermaßen friedliche Stimmung zu zerstören.
    Auch heute Morgen am Mainufer packte mich die alte Wut, und ich fragte mich, warum ist sie hier, was hat sie am helllichten Tag am Mainufer verloren, sie gehört nicht hierher, schließlich habe ich mich nicht grundlos dazu entschieden, in Frankfurt zu studieren und nicht in München. Ich wollte weg von zu Hause, klar, das wollen viele, wenn sie neunzehn sind und ihr Abitur in der Tasche haben, aber das war nicht der einzige Grund, ich sehnte mich nach räumlicher Distanz von ihr, Marie, die damals schon nicht mehr da war, doch was heißt das schon, da oder nicht da, sie hat nie aufgehört, da zu sein. Aber vierhundert Kilometer waren nicht genug, wie ich bald merkte, viertausend oder mehr wären mir, ehrlich gesagt, auch lieber gewesen. Ich hätte zum Beispiel gern in den USA studiert, das war jedoch zu teuer, mit so etwas brauchte ich gar nicht erst anzufangen und natürlich tat ich es auch nicht.
    Sie lief vor mir her und ich beschleunigte automatisch mein Tempo, trotzdem wurde der Abstand zwischen uns nicht geringer, und ich verstand, dass ich sie nicht einholen würde. Und dann dachte ich, ich will sie ja gar nicht einholen, und blieb stehen, um ihr einen größeren Vorsprung zu geben. Erst als sie weit genug entfernt war, lief ich wieder los. Ich wickelte mich fester in meine Jacke, stemmte mich gegen den Wind, der plötzlich aufgekommen war, und rannte schneller, nicht um näher an sie heranzukommen, obwohl sie sich, wie ich feststellte, auf einmal gar nicht mehr so ähnlich sah, ich rannte, um meinen Gedanken, meinen Erinnerungen davonzulaufen, ich rannte, bis ich sie aus den Augen verloren hatte und stehen bleiben und keuchend nach Luft schnappen musste, bis nichts mehr da war, nur noch der Wind in den Ohren, der Schmerz in den Lungen und das Stechen in den Seiten.
    Das war der Moment, in dem ich beschloss, etwas zu unternehmen, so geht es nicht weiter, dachte ich, offenbar gelingt es mir nicht, sie zu vergessen, welche anderen Möglichkeiten bleiben mir noch? Und als ich mir überlegte, was mir immer geholfen hatte, den Kopf über Wasser zu halten, fand ich nur
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