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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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akzeptiert, sage ich, sie hat sie willkommen geheißen als Buße für ihre Sünden und die Sünden der anderen.
    Eine Weile schweigen wir, ich sehe Omi vor mir, wie sie den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten lässt, die Finger mit den geschwollenen Knöcheln, die sich abzeichnen wie ein zweiter Rosenkranz, ein verinnerlichter, der ihr unter der Haut gewachsen ist, und auch meine Mutter starrt vor sich hin, als würde sie etwas sehen, von dem ich allerdings nicht weiß, was es ist.
    Sie war nicht bigott, sagt meine Mutter, sie hat das alles wirklich geglaubt, und mein Vater sagt, sie war eine unglückliche Frau, manche Menschen sind einfach nicht zum Glück geboren.
    Als wäre das eine Erklärung für alles.
    Ricki hat das ebenfalls neue maisgelbe Sofakissen in den Arm genommen und streichelt es wie eine Katze, sie ist sehr still, so viel Wahrheit hat sie wohl nicht erwartet, ich allerdings auch nicht. Meine Mutter steht auf, geht in die Küche und kommt mit einer Schale Käsegebäck zurück. Hier, Ricarda, es tut mir wirklich leid, dass Sie sich das alles anhören mussten.
    Ricki lächelt sie an, das ist in Ordnung, manche Dinge müssen einfach raus. Anne hat mir schon von ihrer Großmutter erzählt, aber ich glaube, ich kann jetzt erst verstehen, welche Rolle sie wirklich für sie gespielt hat.
    Nicht nur für Anne, sagt meine Mutter, auch für Marie, vielleicht hat Marie ja ihr Unglück geerbt, so wie ich ihre Augenfarbe geerbt habe, es könnte doch sein, dass ihr Unglück einfach eine Generation übersprungen hat.
    Wieso Unglück, protestiere ich, Marie war nicht unglücklich, ihr seid doch um sie herumgeschwirrt wie Bienen um den Honig, sie durfte alles, sie hat immer alles bekommen, was sie wollte.
    So hast du es gesehen?, fragt meine Mutter erstaunt. Hast du nicht gemerkt, was eigentlich los war? Wir haben ihr doch immer nur nachgegeben, weil wir Angst vor ihr hatten, sie war schon als Kind schwierig und mit der Pubertät wurde es dann ganz schlimm. Wir hatten Angst vor ihren Reaktionen, ihren Ausbrüchen, wir haben alles getan, um sie bei Laune zu halten, weil wir gehofft haben, auf diese Art die schwierige Zeit zu überstehen, bis sie erwachsen ist, wir haben uns eingeredet, dass dann alles besser würde.
    Das höre ich zum ersten Mal, sage ich, das habe ich nicht gewusst.
    Du hast so vieles nicht gewusst, sagt meine Mutter noch einmal, im gleichen Ton wie vorhin, bedauernd und zugleich vorwurfsvoll, ich kann nicht entscheiden, welches der beiden Gefühle überwiegt, und Ricki sagt, vielleicht hast du es ja nur nicht wissen wollen.
    Mein Vater streicht sich die dünnen Haare zurück. Sie war so schön, sagt er leise, sie war ein besonderes Kind, aber wir waren ihr nicht gewachsen, wir sind nicht mit ihr zurechtgekommen, was für Antworten sie gegeben hat oder wie sie nicht mehr mit einem geredet hat, als wäre man Gewürm. Du weißt doch, wie sie war.
    Ja, ich weiß, wie sie war.
    Meine Mutter wendet sich an Ricki. Sie hat mit sechzehn Tabletten geschluckt und unser Hausarzt wollte sie damals in die Psychiatrie einweisen lassen und ich war dagegen. Später, nach ihrem Verschwinden, hat er sich immer wieder die größten Vorwürfe gemacht, sagt er, weil er damals nicht darauf bestanden hat. Heute meint er, das hätte sie vielleicht gerettet.
    Warum hast du mir nichts davon gesagt?, frage ich.
    Ich habe es ein paarmal probiert, aber du wolltest es nicht hören, du wolltest nicht über sie sprechen. Wenn du hier warst, hast du immer irgendetwas für die Uni lesen müssen, und am Telefon ging es einfach nicht, da hast du auch gleich mit etwas anderem angefangen.
    Doktor Kugler meint, sie war psychisch gefährdet, sagt mein Vater, und wir hätten sie in eine Klinik einweisen lassen sollen. Es gebe solche Grenzfälle, hat er gesagt. Halten Sie das für möglich, Ricarda?
    Ja, sagt Ricki, er könnte recht haben. Manche Persönlichkeitsstörungen zeigen sich durch impulsive und instabile Beziehungen und plötzliche Stimmungswechsel, auch durch Depressionen und dissoziative Störungen. Für die Familien ist es sehr schwer, mit solchen Jugendlichen umzugehen. Ich hatte selbst eine Cousine, die an Persönlichkeitsstörungen litt, ich kenne das, ihre Eltern sind fast daran zerbrochen.
    Und was ist aus Ihrer Cousine geworden?, fragt meine Mutter.
    Ricki senkt den Blick, sie hat sich umgebracht, sagt sie leise, sie ist von einem Hochhaus gesprungen.
    Es bleibt lange still, bis mein Vater das Schweigen unterbricht. Sie
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