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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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Ärmeln, das sie anhatte, als ich sie das letzte Mal sah, zumindest bilde ich mir das ein, vielleicht hatte sie ja auch etwas anderes an und ich habe mir die Leinenhose und das gestreifte T-Shirt nur deshalb gemerkt, weil sie damit besonders schön ausgesehen hat.
    Wir stehen da und schauen uns an, schweigend, sie mich und ich sie, und dann stellt sie die Fragen, vor denen ich mich seit sieben Jahren gefürchtet habe, jetzt ist es so weit, nichts lässt sich auf ewig verdrängen, das habe ich gewusst und trotzdem habe ich die Schranktür aufgemacht. Nicht dass ich besonders mutig wäre, es geht nicht mehr um Mut oder um Feigheit, sondern nur noch um Wahrheit oder Lüge, auch wenn ich nicht sicher bin, wo die Grenze verläuft, Wahrheit und Lüge sind selten so eindeutig, wie wir das gern hätten, zwischen Weiß und Schwarz liegt die Grauzone, ein riesiges, sumpfiges Gebiet, in dem man sich nur allzu leicht verirrt und nicht mehr herausfindet.
    Sie schaut mich an, ich schaue sie an. Sie ist ebenfalls älter geworden, nicht nur ich, obwohl ich bei mir die Veränderung nicht sehen kann, wer weiß schon, wie er in einem bestimmten Jahr ausgesehen hat, aber Maries Gesicht hat in diesen sieben Jahren das Trotzige, Herausfordernde verloren, sie sieht ernst und konzentriert aus. Ihre Augen sind so dunkel wie meine, die Augen unseres Vaters, die Augen der Bodenmais-Oma, und die rote Farbe ihrer Haare wird durch das Spiegelglas und den Schatten, den ich auf sie werfe, gedämpft, sodass sie fast wie meine aussehen.
    Wie gut ich dieses Gesicht kenne, besser als jedes andere, noch nie habe ich ein Gesicht so gut gekannt und vielleicht werde ich auch kein anderes je so gut kennen, jede Linie ist mir vertraut, die vielleicht etwas zu vollen Lippen, die etwas zu ausgeprägte Nase, die langen Wimpern, das Muttermal an ihrem Hals, das eigentlich nur ein kleiner, dunkler Punkt unter ihrem linken Ohrläppchen ist, so klein, dass man ihn leicht übersieht. Ich kann dieses Gesicht jederzeit vor mir auftauchen lassen, mühelos, auch mit geschlossenen Augen, ich erkenne es in jeder Wolke am Himmel, in der Maserung einer Holztür, im flackernden Licht, das eine Kerze auf die Wand wirft, in der Fensterscheibe, wenn sie bei einbrechender Dämmerung langsam blind wird, im Schatten, der, wenn ich morgens am Mainufer laufe, vor mir auf den Weg fällt. Ich hätte dieses Gesicht auch damals vor mir sehen können, vor über sieben Jahren, an jenem Freitag, dem neunten September, als sie angerufen hat, aber damals habe ich nur ihre Stimme gehört, alles andere war nicht wichtig.
    Es war am späten Vormittag, ich war allein zu Hause, unsere Mutter war bei der Arbeit, und unser Vater war, wie üblich, mit dem Auto unterwegs, er würde gegen eins zurückkommen und nach einem hastig hinuntergeschlungenen Mittagessen wieder losfahren, und dann würde ich allein sein, so wie jetzt, allein mit mir und meinen Sorgen, denn meine Tage hatte ich inzwischen bekommen, schwanger war ich also nicht, aber die Angst vor Aids ließ mich nicht los. Ich war gerade dabei, meine Hefte und Bücher für das nächste Schuljahr zu ordnen, das am kommenden Dienstag anfangen würde, als mich das laute, schrille Klingeln des Telefons aus meinem Lieblingstraum riss, dem Traum von einem ruhigen, weißen, absolut sauberen Labor, in dem an einem so heißen Spätsommertag wie diesem die Sonne durch das offene Fenster fallen und die Reagenzgläser und die blitzblank polierten Apparaturen zum Glänzen bringen würde, ein Traum, zu dem ich mich diesmal zwingen musste, weil er immer wieder von dem Gedanken an Aids verdüstert wurde.
    Ich will mit Papa sprechen, sagte Marie ohne ein Wort der Begrüßung und ohne ihren Namen zu nennen, doch das war auch nicht nötig, ich hätte ihre Stimme immer erkannt, unter Tausenden oder gar Millionen hätte ich ihre Stimme herausgefunden. Ich will mit Papa sprechen, sagte sie, los, ruf ihn.
    Er ist nicht da, sagte ich ziemlich verärgert, weil sie es nicht für nötig hielt, nach über zwei Monaten, in denen sie nichts hatte von sich hören lassen, auch nur Guten Tag zu sagen.
    Wo ist er?, fragte sie, ich hörte ihr an, wie ungeduldig sie war, kurz vor einem Ausbruch.
    Weiß ich nicht, sagte ich, obwohl ich natürlich hätte sagen können, er sucht dich, er tut seit Wochen nichts anderes, als dich zu suchen, aber diesen Gefallen wollte ich ihr nicht tun, diese Genugtuung gönnte ich ihr nicht, lieber hätte ich mir die Zunge abgebissen.
    Hör zu, sagte
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