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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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war immer wie ein Kind, sagt er, ein wildes, aufsässiges Kind, sie wollte einfach nicht erwachsen werden. Und vielleicht war sie ja auch krank und wir haben es nicht gemerkt, das macht es nicht besser und nicht leichter.
    Wir schweigen, und ich denke darüber nach, was er gesagt hat, sie wollte einfach nicht erwachsen werden, und überlege, ob ich erwachsen geworden bin, irgendwie schon, glaube ich, aber ob das reicht? Vielleicht auch nur irgendwie.

Siebzehn
    Es gibt Fragen, die sind so klar formuliert, dass man sie – eigent lich – mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten könnte, wenn man sie sich stellen würde oder je gestellt hätte, aber das hat man nicht getan, das tut man nicht, diese Art Fragen will niemand hören und erst recht niemand beantworten, sie werden erst gehört und beantwortet, wenn man keine Wahl mehr hat, nämlich dann, wenn die richtige Zeit gekommen ist, denn es gibt eine Zeit für Fragen, so wie es eine Zeit für Antworten gibt.
    Es war schon spät, als meine Mutter sagte, ich glaube, wir sollten jetzt schlafen gehen, morgen ist auch noch ein Tag, es war schon spät, als wir die Gläser in die Küche brachten und zusammen mit dem Geschirr vom Abendessen, vom Hasenbraten mit Knedlich, in die Spülmaschine räumten, es war schon spät, als meine Eltern die Treppe hinaufgingen und die Stufen knarrten, wie sie immer geknarrt hatten, all die Jahre hindurch, die ich in diesem Haus gelebt hatte, ein schwerer, tiefer, nachschwingender Ton unter den Tritten meines Vaters, ein vorsichtiges, zögerndes Knarren unter den Füßen meiner Mutter, ein hastiges, aggressives Stakkatoklappern, wenn Marie die Treppe hinauflief, und ein von unregelmäßigen Pausen unterbrochenes und von Stampfen übertöntes Knarren bei Omi.
    Es war schon spät, als Ricki mir Gute Nacht sagte und mir wie üblich einen Kuss mitten auf den Mund gab, und es war schon spät, als ich schließlich Stufe um Stufe nahm, diesmal ohne den knarrenden Stellen auszuweichen, wie ich es früher getan hatte, und mich fragte, warum Marie, die diese Stellen schließlich auch gekannt haben musste, nie versucht hatte, sie zu umgehen, wenn sie mitten in der Nacht nach Hause gekommen war. Oft genug hatte sie mich mit ihren lauten Schritten die Treppe hinauf geweckt. Es war ihr egal gewesen, ob ich wach wurde oder nicht, und vermutlich war es ihr auch egal gewesen, ob meine Eltern, die damals noch unsere Eltern waren, ebenfalls wach wurden, und vielleicht war es ihr nicht nur egal gewesen, sondern sie hatte uns absichtlich provozieren wollen.
    Und es ist noch später, als ich vor dem Kleiderschrank stehe, dem einzigen im ganzen Haus, bei dem auf der Innenseite der Tür ein Spiegel angebracht ist. Es ist nicht das erste Mal, dass ich hier stehe, natürlich nicht, ich kann mich sogar noch daran erinnern, wie wir, nach Omis Tod, den Schrank bei Ikea gekauft haben, weil wir nun zwei getrennte Zimmer hatten und auch zwei Kleiderschränke brauchten, den neuen natürlich für Marie, und wie unser Vater den großen Spiegel innen auf die Tür geklebt hatte, weil Marie behauptete, ohne einen solchen Spiegel nicht leben zu können, jeder Mensch brauche einen großen Spiegel, und ich weiß auch noch, dass ich damals dachte, soll sie ihn doch haben, von mir aus, ich brauche keinen Spiegel, aber der neue helle Schrank hätte mir auch gefallen. Jetzt ist das ursprünglich fast weiße Fichtenholz nachgedunkelt, es hat inzwischen die goldbraune Farbe von Waldhonig.
    Langsam strecke ich die Hand aus, noch immer zögernd, auch wenn ich weiß, dass ich keine Wahl habe, jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig, und meine Fingerspitzen zittern, als sie den Schlüssel berühren, der sich überraschend kühl anfühlt. Er hat sich im Schloss verhakt, ich muss ihn ein paarmal gewaltsam hin und her rütteln, bis er endlich nachgibt und sich umdrehen lässt, und dann geht die Tür auf. Der Geruch nach Räucherstäbchen, den ich mir vorhin wohl nur eingebildet habe, dringt jetzt deutlich in meine Nase, er hat sich in ihren Kleidern, die noch immer im Schrank hängen, festgesetzt und die Jahre überdauert. Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich mit zwei Seitwärtsschritten vor der offenen Schranktür stehe und »Hallo, Marie« sage.
    Da bist du ja endlich, sagt sie und blickt mir aus dem Spiegel entgegen, du hast mich ganz schön lange warten lassen.
    Sie trägt noch immer die sandfarbene Leinenhose und das blau-weiß gestreifte T-Shirt mit den dreiviertellangen
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