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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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dauernd betonten, dass sie anders seien als Männer. Wären sie wie die Vogelweibchen, eine Spur grauer und leiser als die Männchen, dann hätten sie sein Interesse vielleicht zur rechten Zeit geweckt. Dann hätte sich Lewadski auch gerne vermehrt mit so einem Wesen. Nur zu welchem Zweck wusste er nicht.
    Lewadski nahm ein Buch aus dem Regal und pustete den Staub weg. Dictionnaire der Rabensprache von Dupont de Nemours, unvollständige Ausgabe. Ein französischer Ornithologenkollege hatte das Faksimile, in einem Kuchen versteckt, pünktlich zu Lewadskis 70. Geburtstag durch den Eisernen Vorhang geschmuggelt. Lewadskis Freude darüber überschattete seinen Verstand so stark, dass er den Franzosen auf den Schnurrbart küsste, vor den Augen des gesamten Lehrstuhls. Jemand hob sein Glas, daran erinnerte er sich, und sprach: »Ein Kuss ohne Schnurrbart ist wie ein Ei ohne Salz!« Man trank auf die internationale Freundschaftund die Rabenforschung, es ertönte »Möge der Tag kommen, an dem ...« und »... sollte beim besten Gewissen keine Utopie sein«. Es wurde angestoßen, und man klopfte sich auf die Schulter: »Vom Urfisch zum Vogel ein Katzensprung!« – »Vom Lungenfisch zum Menschen ein Wimpernschlag!« Man wünschte ihm langjährige Freude an diesem einmaligen und wissenschaftlich völlig uninteressanten Buch. Sein Jubiläum war gleichzeitig auch ein Abschied. Er verließ die Universität und die Studenten, all das, woran er nie richtig gehangen hatte, mit dem Gedanken, er würde nicht mehr lange leben. »Adieu, mon ami!«, versuchte Lewadski zu scherzen, als er am Flughafen dem Franzosen gegenüberstand. Der Franzose nickte hastig und entzog sich Lewadskis Bruderkuss unter dem Vorwand eines Hustenanfalls. Im Flugzeug ereilte den Schnurrbärtigen ein Herzinfarkt. Lewadski litt eine Zeitlang unter der Vorstellung, er habe den französischen Kollegen mit seinem kollegialen Kuss zu Fall gebracht. Hätte er ihm erklärt, dass er in seinem Land Sitte sei wie ein schwacher Händedruck in Mitteleuropa, wäre der gute Mann vielleicht nicht gestorben.
    »Ein zu schönes Buch«, sagte Lewadski. Er sagte es laut genug, dass die anderen Bücher es hören konnten. »So erfüllt sich das Schicksal eines Mannes, Kinder«, setzte Lewadski feierlich fort, »ein Fremder kommt, beschenkt einen Fremden und gibt den Geist auf!« Die Bücher lauschten, als hätte Lewadski diese Geschichte nicht schon zwanzig Mal erzählt. »Dabei dachte ich an dem Tag, ihr werdet es nicht glauben, dass ich bald sterben müsste! Ein zu schönes Geschenk ...«
    Lewadski öffnete das Buch und glättete die Seiten mit knackenden Fingerknöcheln. Er knackte bei jeder Bewegung, schon als Kind war das so gewesen. Er knackte selbst beim Seufzen oder Niesen. Einmal wurde er von einem Schluckaufüberfallen, auch da knackte er bei jedem Hicks und lachte darüber und knackte immer weiter. So verging ein ganzer Tag. Lewadski blätterte genüsslich die Seiten des Wörterbuchs um.
    Kra, Kre, Kro, Kron, Kronoj
    Gra, Gres, Gros, Grons, Gronones
    Krae, Krea, Kraa, Krona, Krones
    Krao, Kroa, Kroä, Kronä, Kronas
    Kraon, Kreo, Kroo, Krono, Kronos
    Es ist ein Segen, dass ich Französisch kann, dachte Lewadski, sonst hätte ich es damals mit siebzig Jahren lernen müssen, um dieses vorzügliche Buch zu lesen. Schlicht und bescheiden stand der zusammengekratzte Inhalt der Rabensprache auf 27 Seiten verteilt, still und gewaltig. Lewadski erinnerte sich an die üble Gemütsverfassung, in die er jedes Mal bei der Lektüre des Wörterbuchs geraten war. Jedes Mal stolperte er über das Wort, das dafür sprach, dass die Menschheit auf ihrer Suche nach Erleuchtung die entscheidende Abzweigung möglicherweise übersehen hatte – ein Wort aus der Rabensprache. Welches war es nur? Lewadski blätterte und spürte eine Hitzewallung seinen runden Rücken hochkriechen.
    Kra (leise, bedächtig, zu sich selbst redend) – ich bin
    Kra (leise, gedehnt) – es geht mir gut bzw. ich bin bereit
    Kra (kurz abgehackt) – lass mich
    Kra (zärtlich, kokett) – hallo bzw. wach auf bzw. verzeih die Albernheit
    Kra (fragend, kurz) – was tun? bzw. wohin?
    Kra (fragend, lang) – ist jemand da?
    Welches Wort war es nur?
    Krao (laut und fordernd) – Hunger
    Kroä (würgend) – danke, vielen Dank, küss die Hand
    Kroo (lang aus vollem Hals) – geh weg!
    Karr (entschlossen) – adieu!
    Kro ...
    Kronos! Kronos war das Wort! Lass uns fliegen in der Rabensprache, chronos auf Griechisch. Lewadski
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