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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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wie sie in dem Strahlenbein tanzen und es überhaupt erst sichtbar machen ...
    Lewadski spitzte den Mund und spuckte in Gedanken auf den Teppich. Was sollte er noch denken, wenn das, was er vom Menschen wusste, ihn mit Ekel erfüllte? Dieses bisschen Wissen verdarb ihm die Freude am Unbekannten, an den Rätseln der Natur, die noch zu lüften wären. Dass er sie nicht mehr kennenlernen würde, trieb ihn bei günstigem Wind dennoch wie einen Jungspund zur Weißglut. Möge die Jugend die Geheimnisse der Schöpfung ergründen – dies zu denken, erzeugte einen dumpfen Schmerz in Lewadski. Nicht dass er den anderen, den Zurückbleibenden, die Erleuchtung nicht gönnte, nein. Lewadski fand nur, die Menschheit habe, wenn überhaupt, eine vorgetäuschte Ehrfurcht vor dem Einfachen und Großen, das Einfache und Große tat ihm leid, denn die Menschen seien aus reiner Neugierde der Natur auf der Spur,jede feierliche Geste sei Heuchelei, jede Aktion, und sei es ein Selbstversuch mit tödlichem Ausgang oder jahrelange Aufopferung im Dienste der Wissenschaft, nichts als egoistischer Trotz, nichts als pure Selbstbehauptung.
    Lewadski erhob sich zitternd vom Schaukelstuhl. Auch jetzt hatte er gelogen: Menschheit hin oder her – nicht das Einfache und Große tat ihm leid, sondern dass es ihm versagt blieb, diesem Geheimnis einen Schritt näher zu kommen. Er war neidisch und eifersüchtig, und er missgönnte es den anderen, wohl wissend, dass alle Mühe im Grunde vergeblich war – das Geheimnis des Lebens würde immer nur noch weiter in die Ferne rücken, solange diese Welt bestand.
    Lange genug bin ich auf diesem Erdball herumgetrampelt, dachte Lewadski. Er öffnete die Balkontür und setzte sich zurück in den Schaukelstuhl. Die staubige Gardine umspielte für einen Augenblick die Gestalt seines Gastes, die Straßenluft. Die Straße selbst betrat Lewadskis Bibliothek, erfüllte sie mit den lästigen und doch so willkommenen Zeichen des Lebens, mit Autohupen, Kindergeschrei und ewig eilenden Frauenabsätzen. Auch Fetzen einer Rabenunterhaltung waren zu hören: Ich liebe dich, ich dich auch, füttere mich! »Antonida! Zieh die Hose an! Sofort!«, kommandierte eine Mutterstimme. Lewadski hob eine Augenbraue – als er in Antonidas Alter war, gab es solche Mädchennamen nicht, und die Mädchen trugen noch Röcke.
    »Ach je«, seufzte Lewadski. Warum die Andeutung seines baldigen Ablebens ihn nicht auf der Stelle hatte sterben lassen, sondern so viel Staub aufwirbelte, war ein Mysterium. Sein Kinn legte sich auf die Brust wie eine leere Schublade auf den Tisch – es gibt hier nichts zu holen, Räuber, lass mich allein. Er öffnete den Mund. Der Sonnenstrahl wühlte nun in seiner Mundhöhle. Lewadski streckte die Zunge heraus undrollte sie zurück. Die Vögel sind doch besser als wir, dachte er, nicht zuletzt weil sie den Schnabel richtig öffnen können im Gegensatz zum Menschen, bei dem das Öffnen des Mundes allein durch das Absenken des Unterkiefers erfolgt – die Vögel heben gleichzeitig den Oberschnabel ein kleines Stück an!
    Langsam machte Lewadski den Mund wieder zu. Er erinnerte sich, dass er vor vielen Jahrzehnten durch ein Fernglas einen Gartenrotschwanz mit einer fetten Zecke am Auge beobachtet hatte. Der Vogel schien sich nicht um die Zecke zu kümmern. Zärtlich zitterte er mit seinem orangefarbenen Schwanz vor seiner Braut auf einer sonnenbeschienenen Mauer. Lewadski hätte damals schwören können, dass das Weibchen das Männchen anlächelte, während es balzend vor sich hin zitterte. Immer hatte er geahnt, dass Vögel lächeln. Nun, als er im Schaukelstuhl saß, wurde ihm plötzlich klar, wie dieses Vogellächeln funktionierte: Das Vogelweibchen lächelte seinen Liebsten an, indem es ihn anschaute. Trotz der hässlichen Zecke am Auge. Es lächelte ihn an, indem es um ihn war.
    Der Gedanke, dass sein Körper einem Parasiten ausgeliefert war, dass seine Lunge einem Meeresbewohner zum Fraß vorgeworfen wurde, ließ Lewadski ein paarmal verdrossen mit dem Stuhl schaukeln. Nicht nur dem Schmarotzer da, sondern auch einer Kombination von Chemikalien bin ich ausgeliefert, wenn ich mich auf das Theater mit der Chemotherapie einlasse, dachte Lewadski und ballte die Fäuste.
    Ihm fiel auf, dass er nach dem Telefongespräch viel zu oft unanständige Wörter in den Mund nahm, Wörter, die er in seinem Leben immer vermieden hatte, Schmarotzer oder Kruzitürken. Selbst dass er sich übergeben hatte, war empörend und ein sicheres
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