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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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klappte das Buch zu. An dieser Abzweigung war die Menschheit vorbeigeeilt, an ihrer eigenen Verwandtschaft – am Bruder Tier. Damit war auch der Gedanke an die Existenz einer gemeinsamen Ursprache begraben worden! »Liebe Bücher«, sprach Lewadski zu seiner Bibliothek, »dass die moderne Tierpsychologie sich hartnäckig weigert, den höheren Wirbeltieren ein Abstraktionsvermögen und ein Sprachzentrum zuzuschreiben, ist nicht nur ein Skandal. Es ist fatal! Dabei ist das Vorhandensein einer gemeinsamen Ursprache offensichtlich. Sagt mir, macht das Tier etwa einen apathischen Eindruck? Ganz im Gegenteil, das Tier sieht munter und neugierig aus, nicht weil es gerade ein Ei gelegt hat, sondern weil es über die Sprache verfügt. Die Sprache ...«, schwärmte Lewadski und reckte den Hals in die Höhe. »So wie wir hat das Tier alle ihm bekannten Gegenstände und Erscheinungen benannt und verinnerlicht. Das Tier wäre sonst in der Isolation, Dunkelheit und Stille eines wortlosen Geisteslebens längst umgekommen, selbst seine verschärfte Sinnlichkeit hätte den Sprachmangel nicht kompensieren können. So wie wir hat das Tier die Welt begriffen, nämlich durch das Benennen dieser Welt!«
    Lewadski schlurfte mit feuchtem Blick die Bücherregale entlang und setzte etwas leiser fort: »Als die Menschheit ihre geistigen und handwerklichen Fähigkeiten zu vermehren und immer weiter zu verbessern begann, legte sich ein dicker zivilisatorischer Nebel über sie, so dass wir uns entweder nah anGott oder von Gott verlassen glaubten. Aber, mein Gott, wie armselig! Immer haben wir nur die Kluft zwischen ihm und uns erweitert. Zwischen den Tieren und uns.«
    Wie zu seinen begabtesten Studenten sprach Lewadski zu den Büchern. »Eine gemeinsame Ursprache scheint physiologisch und philologisch unbestreitbar. Aber woher soll die Philologie die Mittel nehmen, die Sprachfähigkeit der Tiere nachzuweisen und ihre Grammatik zu ergründen?« Das zustimmende Schweigen der Bücher stachelte Lewadskis Eloquenz an. »Es kommt der Tag«, setzte er fort, »an dem die Wörterbücher der Tiersprachen den Verfassern nicht mehr Hohn und Spott, sondern Ruhm und Ehre einbringen werden. Die Verfasser werden bescheiden ihren Blick niederschlagen«, Lewadski starrte peinlich berührt auf den Fußboden, auf dem einige Staubmäuse vom Luftzug hin und her getrieben wurden, »... niederschlagen, weil sie so spät erst auf den Gedanken gekommen sind, im Tier wieder einen ebenbürtigen Nachbarn zu erkennen, einen Freund, dem man eine Sprache und eine unsterbliche Seele wieder zutraut nach so langer Zeit ...«
    Die Bücher schwiegen weiter. Hoffen wir, dass es nicht zu spät ist, um diese Freundschaft zu schließen, wollte Lewadski sagen, doch er dachte es nur stumm vor sich hin.

II
    Lewadski beschloss, seinen Sonntagsanzug anzuziehen, seine Lieblingsfliege mit extravaganten rotschnäbligen Alpenkrähen umzubinden und in die Innenstadt zu fahren. Was zu tun war, war klar: einen Spazierstock besorgen, in eine anständige Konditorei gehen und Torte essen, bis ihm ein stechender Schmerz in den Kiefer fährt, bis er spürt: Er lebt, und er lebt gar nicht schlecht.
    Während er sich anzog, traf er noch eine Reihe von Entscheidungen: Er würde die Kellnerin wie aus Versehen berühren, sollte sie hübsch sein. Sollte ihn ein Kellner bedienen, würde er ihm ein Bein stellen. Seinen Hausarzt wird er nie wieder anrufen, und sollte der sich melden, würde Lewadski mit einem gruseligen Schrei den Hörer auflegen. Die Bestrahlung konnte ihm gestohlen bleiben, genauso wie alle hochgiftigen Medikamente. Stattdessen wird er sich täglich bis zu seinemTod ein Stück Schokoladentorte gönnen, zu Ehren seiner Mutter, einer Witwe, die dem Kind Lewadski im besten Hotel von Wien Schokoladentorte zu bestellen pflegte zwischen den Kriegen.
    »Jawohl«, sagte Lewadski zum Spiegel, spuckte in die Hand und glättete die einzige dünne und ziemlich lange Haarsträhne, die er noch hatte, Richtung Nacken. Wie er nur ohne Spazierstock durchs Leben hatte gehen können! Kein Wunder, dass er hinkte, mit Gehstock wäre ihm das niemals passiert.
    Auf dem Weg zur Bushaltestelle blieb Lewadski mehrmals stehen und putzte sich die Nase. Er beschloss, bis zu seinem Tod keine karierten Taschentücher mehr zu benutzen, sondern nur noch weiße, die er in der Innenstadt kaufen würde, zusammen mit dem Stock, einem Hut und neuen Hemden aus hundert Prozent Baumwolle. Es kommt nichts anderes in Frage als
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