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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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seinem Schaukelstuhl am Fenster.
    Er schloss die Augen und war sich sicher: So sah er imposant aus, echt und lebendig wie damals vor dem Kaffeehausfenster. So wie er da saß, mit dem Bein eines Sonnenstrahls auf seiner Brust. Oder vielleicht war das Bein kein Bein, sondern eine Lanze, die ihn, einen alten Drachen, durchstieß? Er lächelte. Hätte jemand sein Gesicht in diesem Moment beobachtet, hätte er denken können, eine hauchdünne Zitronenscheibe würde unter der Zunge des Greises zergehen. Doch es gab niemanden, der Lewadskis Gesicht hätte sehen können. Seit er zu altern begonnen hatte, war er immer allein gewesen.
    Zu altern begann er als kleiner Junge. Er alterte, als ihm beim Grasmähen ein Rotkehlchen auf die Schulter sprang. Wie die Morgenröte. Wie ein ofenfrisches zartrosa Brot saß es mit seinen dünnen Beinen auf Lewadski. Das Rotkehlchen zierte ihn mehr als jeder Orden. Es machte ihn zum Menschen. Zum Greis! Da tickte Lewadskis Uhr los, immer lauter mit jeder weiteren Vogelbegegnung.
    Er alterte, als er vom Fenster des Schulhauses aus einen Eichelhäher beim Verstecken seiner Beute beobachtete. Wie er zwei Eicheln nacheinander aus dem Rachen rollen ließ, im Boden vergrub und die Stellen mit bunten Blättern markierte. Der Eichelhäher. Das Blau seines Gewandsaums und seine Nachtsaphiraugen – schelmisch neigte er den Kopf: Lewadski, Lewadski, ich weiß, dass du weißt! Lewadski alterte, wenn er auf einer Hochzeit oder Begräbnisfeier an lauwarmen Hühnerschenkeln nagte. Er alterte, wenn er einem Frühstücksei einen vernichtenden Schlag mit dem Löffel versetzte. Er alterte, als ihm in der Kurstadt Jalta eine Lachmöwe ein Stück Torte aus der Hand riss. »Du raubtest mir die Freude!«, rief ihr Lewadski nach, stampfte mit dem Fuß aufund wusste doch sofort: Nichts und niemand kann einem die Freude rauben. Freude ist kein Stück Torte. Er alterte besonders stark, als er eines Tages im Herbst vor einer Litfaßsäule mit Filmplakaten stehen blieb, den Kopf zum Lesen in den Nacken warf und von einem Taubenschiss ins Auge getroffen wurde. Mitten ins Herz wurde Lewadski getroffen, mitten in sein alterndes Herz. Bei jeder Explosion von Taubenflügeln alterte Lewadski, bei jedem vorbeifliegenden Farbfleck, der als Goldregenpfeifer, junge Amsel oder Starweibchen zu identifizieren war. Er alterte, als er zum ersten Mal ein Mädchen küsste und plötzlich in der Dämmerung einen Schatten vorüberhuschen sah. »Verflixt! Eine Sperlingseule!«, schrie er in die erschrockenen Kulleraugen des Mädchens und alterte und wurde noch ein bisschen mehr zu dem Lewadski, der er werden sollte.
    Schließlich war es die Musik, die dem reifenden Greis vernichtende Schläge versetzte. Sie verschlang ihn und spuckte ihn aus, um ihn wieder zu verschlingen. Das Kind Lewadski, der Greis Lewadski, zu blauäugig, den Tag zu verfluchen, an dem er sich einbildete, die Musik gefunden zu haben. Sie fand ihn, und sie fuhr in ihn hinein wie ein gewaltiger Keuchhusten, der ihn immer mehr krümmte, so dass er zwergenhafter als ein Zwerg zu ihr hinaufschielte. So wanderte Lewadski durch das Leben. Sein Buckel wuchs wie seine Ehrfurcht vor der Musik und den Vögeln. Doch weder die Musik noch die Vögel dachten daran, den Stab über Lewadskis Buckel zu brechen.
    Vollbracht, Kruzitürken! Lewadski klopfte sich schwach auf seinen mageren Schenkel. Der Verdacht auf Lungenkarzinom hat sich also bestätigt! Das geduldige und pseudorespektvolle Flüstern seines Arztes am anderen Ende der Leitung sprachdafür. Es traf den alten Mann mehr, als wäre ihm die Diagnose in den Hörer gebrüllt worden.
    Gerne hätte er ein Gebet gesprochen, etwas Erhabenes, doch alles Vortreffliche schien entweder unaussprechlich oder besudelt von Todesangst und Selbstmitleid. Unrein, einfach unrein. Schließlich verwies alles in dieser Welt auf den Menschen, auf ihn allein. Auch noch in der vermeintlich selbstlosesten Regung des Geistes kläffte ein kleines Ich! Ich! Ich!, und ein winziger Schauspieler lehnte pfeifend in der Kulisse der scheinbar echtesten Gefühle. Ekelhaft, dachte Lewadski, nicht einmal einem Schicksalsschlag kann man aufrichtig begegnen. Er dachte es und wusste, dass ein anderer Lewadski, wie um diesen Gedanken zu bestätigen, sich gerade eine Hutbreite über ihn erhob, um sich an diesem Bild zu ergötzen: ein Greis mit Lungenkarzinom im Schaukelstuhl und einem pompösen Sonnenstrahlbein auf der Hühnerbrust und, wie apart, all die Staubkörner,
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