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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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wuchtigen Stute. Eine Elster erledigte ihr Geschäft auf dem unbedeckten Kopf des Mannes. Ihre Schwingen und Schwanzfedern schillerten erzfarben. »Schakarak!«, rief die Elster und flogschwerfällig auf die Spitze einer der Tannen in der Nähe. »Ein hübsches Tier«, sagte Lewadski, drehte sich zu seiner Nachbarin um und sah, dass sie weg war. Die mit dem Strickzeug und die Taubennärrin hatten ihre Gestalt geändert und waren zu zwei rauchenden Studenten geworden.
    Lewadski stand auf und setzte seinen Weg fort. Ich brauche dringend einen Stock mit Silbergriff, dachte er, während er den Platz der Freundschaft überquerte, mit einem Silbergriff, in dem die Abendsonne spielt. Mein Gott, was habe ich alles in meinem Leben verpasst! Seine Laune besserte sich mit jedem Pflasterstein, den er hinter sich ließ. Hin und wieder blieb er stehen und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. Er lehnte sich an die Ampelmasten, während er auf Grün wartete. Die Unterführung mied er. Um die Zigeuner und Zeitungsverkäufer machte er einen Bogen. Die übrigen Menschen traten vor ihm, Luka Lewadski, Professor emeritus der Zoologie, auseinander. Weder respektvoll noch voller Ekel, sondern mechanisch wie das Blut vor einer Nadel in seiner Bahn. Die Kosmonautenstraße gähnte ihn mit zwei Reihen alter Platanen an, die zum Herzen der Stadt führten, zu den Läden mit den unentbehrlichen Artikeln, dem Silberstock, den Hemden, den schneeweißen Taschentüchern und einem modischen Bowler. Ich werde noch zum Modenarren, dachte Lewadski und ballte vor Wonne seine faltigen Hände in den Hosentaschen zu Fäusten. Er spürte, dass eine Träne in ihm hochstieg, rund und groß wie eine Taucherglocke. Schweißüberströmt setzte sich Lewadski in ein Taxi. »Bis ans Ende der Straße bitte«, sagte er zur erhobenen Augenbraue des Taxifahrers im Rückspiegel und lehnte sich mit einem pfeifenden Seufzer zurück.
    Auf die Frage der drallen Verkäuferin nach seiner Konfektionsgröße zuckte Lewadski die schmächtigen Schultern undbat, vermessen zu werden. »Diesen hervorragenden Anzug, den ich trage, habe ich kurz nach dem Krieg in London beim königlichen Ausstatter in Auftrag gegeben, für das 42. internationale Ornithologentreffen«, sagte Lewadski mit ausgebreiteten Armen. Sein Atem bewegte eine der dünnen Locken der Verkäuferin, die mit eingezogenen Lippen seinen Brustkorb ausmaß. »Damals war ich etwas höher und ohne Buckel, aber in der Breite genauso unspektakulär wie heute.« Die Verkäuferin befeuchtete ihren rechten Zeigefinger und begann, in einem Katalog mit Modellen zu blättern. »Ein Busen ist mir auch nicht gewachsen«, versuchte Lewadski zu scherzen.
    »Welche Farbe soll der Anzug haben?«, fragte die Verkäuferin, ohne Lewadski eines Blickes zu würdigen. »Dunkelblau, braun, schwarz, mausgrau, aschgrau, Nadelstreifen, dunkle Knöpfe, Goldknöpfe?«
    »Dunkelblau und dunkle Knöpfe, bitte.«
    »Und das Futter?«
    »Weinrot natürlich.«
    Die Verkäuferin verschwand auf klappernden Absätzen hinter einer Tür und tauchte kurz darauf mit einem dunkelblauen Anzug und einer älteren Kollegin auf. Diese erklärte Lewadski, dass die modernen Anzüge kein weinrotes Futter hätten, sondern ein dunkelgraues oder altrosa. »Altrosa wäre schick, dunkelgrau geschäftsmäßig.«
    »Dann nehme ich altrosa«, sagte Lewadski, der früher in dieser Situation rot angelaufen wäre, früher, als er Menschen, die ›früher‹ zu sagen pflegten, grässlich fand.
    Lewadski kaufte außerdem ein paar Hosenträger, einen beigefarbenen Schal aus irischer Schurwolle, einen dunkelblauen Seidenschal mit Schaukelpferdmuster, eine Seidenfliege mit leuchtend roten Gimpelmännchen auf schwarzem Hintergrund, eine Seidenfliege mit englischen Rosenseeschwalben und Ankern sowie zehn weiße Batisttaschentücher mit einem unleserlichen Monogramm, das aus lauter Schnörkeln bestand. Mit den Hemden hatte er es nicht leicht. Was es auf Lager gab, war kariert, gestreift und mit hässlichen Plastikknöpfen. »Kommt nicht in Frage!«, empörte sich Lewadski, »ich habe 96 Jahre dieses billige Zeug getragen. Wenigstens sterben darf ich auf feine Art!«
    Das Bedürfnis, im Luxus zu sterben, in dem er nie gelebt hatte, breitete sich in Lewadski wie ein Scheunenfeuer aus. Es wuchs in ihm und verschlang die Angst vor dem Tod. Das plötzliche Bedürfnis nach Luxus nahm Lewadski jeglichen Respekt vor dem Ernst der Lage und degradierte seine vom Krebs angeknabberte Lunge zu
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