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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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für die Gemeinschaft verloren war. Gottlob!, dachte Lewadski, wäre mir das Buch nicht aufgefallen, oder hätten mich die Sätze über die Bienen nicht mehr berührt – das wäre schlecht! Lieber Gott, ich danke dir. Lewadski faltete die Hände. Sein Morgengebet sprach er seit einigen Jahren laut, teils um sich zu vergewissern, dass er noch da war, und teils als Gymnastik für die Stimmbänder.
    Ich bin erwacht,
    die Sonne lacht,
    gut war die Nacht.
    Gott Vater,
    du hast mich bewacht.
    Was heute noch kommt,
    das weißt du allein;
    doch was auch geschieht:
    Du wirst bei mir sein.
    Lewadski wischte eine Träne weg und sprach mit brechender Stimme zum Abdruck einer blutrünstigen Mücke an der Decke:
    Das will ich mir schreiben in Herz und Sinn,
    dass ich nicht für mich allein auf Erden bin,
    dass ich die Liebe, von der ich lebe,
    an andere Menschen weitergebe.
    Nach dem Frühstück telefonierte er mit seiner Bank. Seine Ersparnisse erwiesen sich nicht als exorbitant, aber als beachtlich. Mein Gott, habe ich sparsam gelebt!, freute sich Lewadski. Er dachte an sein Konto in Wien, ein Honorarkonto, auf das ihm seit 1975 für seine Artikel im Konrad-Lorenz-Jahresmagazin regelmäßig Geld überwiesen wurde, und er hob nichts davon ab, wie denn auch? Das letzte Mal war Lewadski 2002 in Wien gewesen, auf dem Kongress zur Förderung der Mobilität des Waldrapps . Zum Geldabheben war er nicht gekommen, denn er war zu beschäftigt, zu begehrt gewesen. Die Konrad-Lorenz-Gesellschaft begrüßte ihn mit offenen Armen. Er war Staatsgast und von der Republik Österreich eingeladen worden, reiste in der 1. Klasse, bekam eine warme Mahlzeit im Flugzeug und wurde von einer schwarzen Limousine abgeholt. Der Chauffeur trug weiße Handschuhe wie ein Kellner. Fünf Kristallleuchter hatte die Suite im Hotel Imperial, wo er auf Kosten der Gesellschaft wie ein Baron logierte. Lewadski hatte Nackenschmerzen vom Bestaunen der Pracht. An diese Reise und die Nacht im Imperial erinnerte sich Lewadski sehr gerne. Der Waldrapp, dem er all das zu verdanken hatte, war schon im 17. Jahrhundert im Großteil Mitteleuropas ausgerottet worden. Die Konrad-Lorenz-Forschungsstelle setzte es sich zum Ziel, den hässlichenVogel wieder in seiner alten Heimat heimisch zu machen. Es klappte, doch der Waldrapp wusste nicht mehr, dass er im Winter nach Italien aufbrechen sollte. Lewadski schlug auf dem Kongress vor, die ganz jungen Vögel im Winter in den Süden zu fahren und ihnen, wenn sie älter geworden waren, in Leichtflugzeugen vorauszufliegen, als Anleitung, so dass sie später die Route alleine finden würden. Die Idee fiel auf fruchtbaren Boden. Bald darauf brach ein Schwarm Waldrappe in sein italienisches Winterquartier auf und kehrte im Frühling wohlbehalten zurück. Lewadski bekam zahlreiche Zeitungsartikel zugeschickt:
    Mit gutem Beispiel voran, ukrainischer Ornithologe sprengt alle Grenzen – Professor Lewadski aus der Ukraine (Jahrgang 1914) verleiht dem Waldrapp Flügel – Auf nach Italien! Eine kühne Idee verändert die Welt eines tot geglaubten Exoten – Ziehvater im Leichtflugzeug: Ein Ukrainer schickt den Waldrapp in den Urlaub – Nieder mit den Grenzen! Beispielloses Auswilderungsprojekt in der Geschichte des Artenschutzes.
    Lewadski setzte Tee auf. Sich selbst setzte er auf einen Küchenschemel. Er starrte die Gasflamme an. Ich lasse den Krebs Krebs sein, dachte er, für den zahle ich keine müde Kopeke. Stattdessen fliege ich nach Wien. Ich fliege wie ein Waldrapp in mein Winterquartier. In die ewige Sonne. Einmal hin mit Rückenwind ...
    Das Wasser kochte und ergoss sich zischend über die Strahlen der blauen Gassonne. Lewadski stand auf und drehte das Gas ab. »Beschlossen«, sagte er und schüttete das Wasser in seine einzige heile Porzellantasse.

III
    Lewadski wurde als einziges Kind eines gräflichen Försters und einer Wiener Ornithologin in Ostgalizien geboren. Das Jahr seiner Geburt versprach der Welt nichts Gutes. An seinem Geburtstag starb die letzte Wandertaube, ein wunderschöner Vogel mit roten Augen und schwarzem Schnabel, in einem amerikanischen Zoo. Dass sie genau am 1. September 1914 ihr Leben ausgehaucht hatte, am selben Tag, als Lewadski, blutbeschmiert und blind, mit leisem Krähen seine Ankunft verkündete, erfuhr er als gestandener Mann kurz nach seiner Promotion. Seitdem dachte er einmal im Jahr an die Wandertaube Martha und daran, wie einsam sie in der Gefangenschaft gewesen sein musste. Natürlich hatte sie
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