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Wer ist Martha? (German Edition)

Wer ist Martha? (German Edition)

Titel: Wer ist Martha? (German Edition)
Autoren: Marjana Gaponenko
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Anzeichen für seinen Verfall. Wen kümmert es, dachte Lewadski, wenn ich bald den Löffel abgebe. Erriss die Augen auf. Na bitte, den Löffel abgeben, in solchen Sätzen höre ich mich sprechen! Dann soll ich halt verrecken! Verrecken und verfaulen! Lewadski winkte ab, stemmte sich ächzend aus dem Schaukelstuhl und schlurfte zum Regal mit den Medizinbüchern.
    Cyclophosphamid, klingt wie Bandit ..., hemmt die Vermehrung sich schnell teilender Zellen. Nebenwirkungen: Übelkeit, Erbrechen, Haarausfall. Kann die Nerven und Nieren schädigen und zu Gehörverlust führen, auch einen irreparablen Verlust der motorischen Funktion, Knochenmarksunterdrückung, Blutarmut und Blindheit verursachen. Na, bon appétit. Am liebsten hätte Lewadski den Arzt angerufen und in den Hörer gezwitschert.
    Tjü-tjü!
    Ku-Kü-Kü-Ke-tschik-Ke-tschik!
    Iju-Iju-Iju-Iju!
    Tjü-i-i!
    Hätte der Arzt gefragt, was das denn sein soll, wäre Lewadski bei der Wahrheit geblieben: Eine ihren Gefährten herbeilockende Sperlingseule, Sie Trottel! Und aufgelegt. Richtig spitzbübisch kam er sich vor. Mit 96 Jahren war Lewadski wieder zu einem Streich aufgelegt. Die staubige Tüllgardine streckte sich zu ihm hin, langsam wie unter Wasser, dahinter die Fichte vor seinem Haus mit etwas Gold im grünen Bart und Vögel, Vögel, Vögel, die als Stimmen, als Licht- und Schattenspiele von Zweig zu Zweig hüpften, von Baum zu Baum, von Wolke zu Wolke, von Tag zu Tag, Engel, immer unter Menschen.
    Lewadski hatte plötzlich das Gefühl, einen Gehstock zu benötigen. Er lehnte sich an seine Bücherwand, erstaunt darüber, wie er bislang ohne Stock hatte leben können, schüttelte den Kopf und schrieb dieses Versäumnis seiner Zerstreutheit zu.
    »Adieu«, sagte Lewadski zum Medizinlexikon in seiner Hand, bevor er es zuklappte. Er schaute sich in seiner Wohnung um, unentschlossen, was er tun sollte. Statt Blumen zu gießen, einen Brei zu kochen oder Staub zu wischen, ging er zur Beruhigung im Quadrat seiner Bibliothek spazieren.
    Das Einzige, was der Mensch wirklich zu besitzen scheint, ist das Nichtgespielte. Und das einzig Nichtgespielte am Menschen, dachte Lewadski, auf seine Lupe hauchend, ist sein Stolz! Er war stolz auf seine mit Bücherregalen zugestellten Wände. Diese Eigenschaft gehörte zwar in die Abteilung der Todsünden, aber wie konnte sie schlecht und verwerflich sein, wenn sie reiner, aufrichtiger und selbstloser war als die Liebe, zu der der Mensch sich einbildete fähig zu sein? Allein der Stolz war unbegründet und brauchte keine Bewunderer, um nicht zu erlöschen. Mag sein, dass er die Seele vergiftete. Er erhob aber auch das arme Menschenwesen ein wenig, wenn auch in fragwürdige Sphären, von wo aus es das Flackern eines unermesslich größeren Glücks gewahr wurde. Das Schönste war: Eine einzige Stolzaufwallung entzog der Einsamkeit jegliche Grundlage. Warum sollte der Mensch diese Sünde also nicht begehen?
    »Was, wenn ich zur Liebe nie fähig war?«, fragte Lewadski einen schmalen Buchrücken mit den eng aneinandergedrängten goldenen Buchstaben Anleitung zur Zähmung heftig widerstrebender Papageien . »Dann war ich wenigstens zum Stolz fähig, ich war stolz auf dich, kleines Buch. So wie die Liebe dem Liebenden angeblich den Boden unter den Füßen wegreißt, so riss mein Stolz mir den Boden unter den Füßen weg. Ich schwebte weder hoch noch lange, aber dafür fiel ich nicht auf den Schnabel. Ich landete sanft in meinem Element – in meiner Bibliothek. Ich wurde nie enttäuscht ...«
    Lewadski hätte gerne geweint, doch er ahnte, dass diese Tränen mehr dem Anruf seines Arztes als der Feierlichkeit des Augenblicks gelten würden, und verbat es sich. Mein Anstand bringt mich noch ins Grab, dachte Lewadski, denn selbst das Natürlichste erschien ihm auf einmal unangebracht. Die Aufrichtigkeit, sagte er zu den Büchern, ist eine schleimige Angelegenheit, sie entschlüpft uns immer dann, wenn wir sie um uns dünken. Lewadski hauchte noch einmal auf die Lupe und polierte sie am Ärmel seines Hemdes. Dünken! Wie drücke ich mich denn aus! Dass er mit diesem pathetischen Imponiergehabe das andere Geschlecht hätte für sich gewinnen können, früher, als er nichts als die Paarungstänze und das Brutverhalten der Vögel im Kopf gehabt hatte, wollte er nicht denken. Doch er dachte es, er dachte es mit einem Hauch von Bitterkeit. Nach einem erfüllten wissenschaftlichen Leben wusste er: Frauen hätten ihn mehr interessiert, wenn sie nicht
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