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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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sicher. Diese Stimme machte sie so müde, sie schämte sich so, weil er nicht den Mund halten konnte. Der Hauptkommissar und sein Kollege waren beide auf die Knie gesunken, Schulter an Schulter hockten sie im Heidekraut. Jetzt sahen sie alles, was Kristine gesehen hatte, die Details, die verrieten, was der Junge durchgemacht hatte. Plötzlich kam Reinhardt auf sie zu, vielleicht haben sie ihn verjagt, dachte sie und schaute auf.
    »Ist dir etwas aufgefallen?«, fragte er und ließ sich neben ihr nieder.
    »Nein«, sagte sie müde.
    »Hier fehlt etwas.«
    Sie sah ihn verwirrt an.
    »Was denn?«
    »Presse«, sagte er sachlich.
    Sie riss die Augen auf.
    »Ja, Gott sei Dank«, sagte sie.
    »Die Zeitung VG bezahlt tausende für so eine Kiste.«
    Er schaute auf sie herab.
    »Du kannst sie nicht anrufen, das kannst du einfach nicht tun.«
    »Aber Herrgott, jetzt sei doch mal realistisch. Die kriegen das auf jeden Fall raus.«
    »Nicht, wenn du den Mund hältst.«
    »Bis heute Abend ist es durchgesickert«, sagte er, »und das finde ich auch richtig. Die Leute müssen doch auf ihre Kinder aufpassen können, der Kleine da hinten ist ja höchstens sechs oder sieben.«
    Sie gab keine Antwort. Ihr Mund war klein und verkniffen, und sie sah gequält aus.
    »Wir müssen mit auf die Wache«, flüsterte sie, »wir müssen unsere Aussage machen.«
    »Das weiß ich.«
    »Aber was ist, wenn wir uns nicht richtig erinnern? Wir dürfen nichts sagen, was nicht stimmt.«
    »Du kannst dich an manches erinnern, ich mich an anderes. Der kommt nicht durch.«
    Kristine schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat er ja nur einen Spaziergang gemacht«, sagte sie. »Genau wie wir.«
    Gerichtsmediziner Snorrason drehte den Jungen auf den Rücken. Jetzt sahen sie sein Gesicht und seine halb geöffneten Augen.
    »Das gibt Überstunden, Skarre«, sagte Sejer.
    Skarre nickte ernst.
    »Ich werde Tag und Nacht arbeiten«, sagte er. »Ich werde schuften, bis meine Augen brennen und tränen.«
    Snorrason arbeitete mit behutsamen, behandschuhten Händen.
    »So ein kleiner Wicht«, sagte er leise. Er schüttelte den rotblonden Kopf.
    »Seine Mutter hat vielleicht schon angerufen, weil sie ihn vermisst, erkundige dich mal bei der Zentrale, Jacob.«
    Skarre stand auf und kehrte den anderen den Rücken zu.
    »Keine sichtbaren Läsionen«, sagte Snorrason. »Keine Schrammen oder Stichwunden. Keine Würgemale, keine Blutergüsse am Augapfel. Keine Anzeichen für einen Kampf, keine Abwehrverletzungen.«
    Sejer sah in das bleiche Jungengesicht.
    »Er kann ein Kissen benutzt haben«, sagte Snorrason. »Oder was er sonst gerade zur Hand hatte. Eine Jacke oder eine Decke.«
    »Könntest du es sehen, wenn er ein Kissen genommen hätte?«, fragte Sejer.
    »Nicht unbedingt. Nichts weist auf Druck gegen das Gesicht hin. Oft kann man auf der Innenseite der Lippe einen linearen Zahnabdruck sehen, aber hier finde ich keinen.«
    »Was kannst du sonst sagen?«
    Snorrason öffnete den Mund des Jungen und schaute hinein.
    »Junge, europäisch, acht oder neun Jahre alt. Klein und extrem schmächtig. Ich tippe auf zwischen fünfundzwanzig und dreißig Kilo. Ihm fehlt ein Zahn im Oberkiefer. Und«, er schaute zu Sejer hinüber, »er hat sich heftig in die Zunge gebissen.«
    Sejer hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen.
    »Allem Anschein nach ist der Junge vergewaltigt worden«, fuhr Snorrason fort, »andere Spuren von physischer Misshandlung sind nicht zu sehen. Mit anderen Worten, ich habe keine Ahnung, woran er gestorben ist.«
    Sejer musste aufstehen, seine Knie zitterten, er sah Skarre an, der telefonierte. Danach schaute er zu dem Paar hinüber, das auf dem Holzstapel saß und wartete. Der Mann glotzte ungeniert, die Frau kratzte mit einem Zweig im Heidekraut.
    Skarre steckte das Telefon in die Tasche.
    »Hast du etwas erfahren?«, fragte Sejer.
    »Gegen zwei Uhr hat eine Frau angerufen. Sie vermisste ihren Sohn, er sollte von Solberglia zum Granatvei draußen in Huseby gehen, er hatte bei einem Freund übernachtet. Sie hat überall herumtelefoniert und seine Kleidung beschrieben.«
    »Und?«
    Sejer wartete.
    »Es kann wohl kaum noch Zweifel geben«, sagte Skarre. »Jonas August Løwe. Wird im Oktober acht. Klein und dünn mit kurzem blondem Haar. Trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck Kiss. Rote knielange Hose. Schneeweiße neue Turnschuhe. Haben wir Hose und Schuhe gefunden?«
    »Nein.«
    Sejer machte einige Schritte durch das Heidekraut. In Gedanken wiederholte er den
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