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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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so fest, dass sie wimmerte, sie hatte nie gesehen, dass sein starkes Gesicht vor Angst leuchten konnte. Sie folgte seinem Blick und entdeckte eine Baumgruppe.
    Etwas lag zu Füßen der düsteren Stämme.
    Reinhardt war sprachlos. Das war sie nicht gewöhnt, er war einer, der handelte, der sich in jeder Lage äußerte. Sie starrte das an, was vor den Bäumen lag, etwas Dünnes, Weißes. Der entsetzliche Gedanke, es könnte ein kleiner Mensch sein, nahm Gestalt an.
    »Das ist ein Kind«, flüsterte Reinhardt. Er hatte sich noch immer nicht bewegt. Er ließ auch ihren Arm nicht los, sein Griff war wie ein Fuchseisen.
    »Verdammt, das ist ein Kind«, sagte er noch einmal.
    »Nein«, sagte sie. Denn das konnte nicht wahr sein, nicht hier, nicht im Linde-Wald.
    Reinhardt trat einen Schritt vor. Er hatte keine Zweifel mehr, er sah Arme und Beine. Ein bedrucktes T-Shirt. Kristine schlug die Hand vor den Mund. Eine Ewigkeit blieben sie so stehen. Das Bündel lag bewegungslos im grünen Moos. Kristine schaute zu Reinhardt auf, ihre grünen Augen flehten ihn an, aktiv zu werden.
    »Wir müssen anrufen«, flüsterte sie.
    Reinhardt ging auf die Baumgruppe zu, sein Körper strahlte Widerwillen aus. Zehn Schritte, fünfzehn, sie sahen einen Fuß und einen schmächtigen Nacken. Es war ein Junge. Er lag auf dem Bauch, von der Taille abwärts war er nackt und auf den Innenseiten seiner Oberschenkel klebte zu einer rotbraunen Kruste erstarrtes Blut.
    Verzweifelt wandte Kristine sich ab. Aber sie konnte dem Anblick nur zwei Sekunden lang den Rücken kehren. Dann musste sie wieder hinsehen, ihre grünen Augen registrierten jedes Detail. Die kurz geschnittenen Haare im Nacken des Jungen, das T-Shirt mit dem Aufdruck »Kiss«, die Fußsohlen, blassrosa auf dem dunklen Moos.
    »Wir müssen anrufen«, flüsterte sie, »wir müssen sofort anrufen.«
    Dann verlor sie die Kontrolle über ihren Körper, fing an zu zittern. Zuerst die Hände, dann die Schultern, sie fand keinen Halt, sie schwankte.
    Reinhardt packte sie unter den Armen und zog sie hoch.
    »Ganz ruhig, ganz ruhig!« Aber sie fand keine Ruhe. Im Kopf erteilte sie sich Befehle, die Arme und Beine nicht erreichten.
    »Hundertzwölf«, flüsterte sie. »Du musst die Hundertzwölf anrufen.«
    Er suchte sofort in seinen Taschen nach seinem Telefon.
    »Ist es nicht die Hundertdreizehn?«
    Sie widersprach leise, ihr Körper war noch immer in Aufruhr.
    »Hundertzwölf«, wiederholte sie. »Die Polizei.«
    Er gab in wildem Tempo die Nummer ein, lief hin und her und schaute immer wieder zu dem Leichnam hinüber.
    »Wir sind oben im Linde-Wald«, hörte sie ihn sagen, »dreißig Minuten vom See entfernt. Wir haben einen kleinen Jungen gefunden.«
    Dann schwieg er einige Sekunden lang, presste sich das Telefon ans Ohr.
    »Ja, ich heiße Ris. Reinhardt Ris, wir machen hier einen Spaziergang. Wir haben einen toten Jungen gefunden. Sie müssen herkommen.«
    Wieder Schweigen. Kristine gab dem Zittern nach, sie sank in die Knie und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab.
    »Nein, er hat keinen Puls«, rief Reinhardt, »lassen Sie diese Fragen, wir sehen, dass er tot ist, er ist ganz weiß!«
    Er kam wieder auf sie zu, blieb stehen, sein sandfarbener Schopf sträubte sich.
    »Ja, wir können zur Schranke kommen, da steht unser Wagen, wir warten.«
    Kristine kam mühsam wieder auf die Beine, sie ging auf einen Punkt am Rand der Lichtung zu. Jemand hatte Holz zu einem großen Haufen gestapelt, sie ließ sich auf einen Baumstamm sinken. Dort saß sie dann und betrachtete den Mann, den sie so gut kannte. Denn so war es doch? War es nicht richtig, dass sie jede Faser dieser kräftigen Gestalt kannte, alle seine Launen und seinen starken, energischen Charakter? Lange stand er unschlüssig da und schaute in alle Richtungen, ein riesiger Mann zwischen den Bäumen. Alles, was sie sonst mit ihm verband, war verschwunden. Autorität, Sicherheit und Ruhe. Wille und Entschlossenheit. Er schien zu schwanken. Sie sah, dass er wieder zu dem Jungen ging, dass er auf die Knie fiel, er senkte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. Was macht er, dachte sie verwirrt, weint er, kann das sein? Kniet er da und schluchzt wie ein kleines Kind? Habe ich mich in all diesen Jahren in ihm getäuscht, ist er eigentlich empfindsam und leicht zu rühren?
    Plötzlich erkannte sie die Wahrheit.
    Er hielt sein Telefon in den Händen und fotografierte.
    4
     
    »Wie konntest du nur!«, rief sie verzweifelt.
    Vergessen
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