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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition)
Autoren: Karin Fossum
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nicht vorschreiben, wie er mit dieser Situation umzugehen hatte. Wieder sprang er auf und ging ruhelos hin und her, die Frau hinter dem Tresen ließ ihn nicht aus den Augen. Endlich betraten Sejer und Skarre die Rezeption, die Tür schloss sich hinter ihnen mit einem jammernden Geräusch. Sie gingen hintereinander her durch viele Gänge, lautlos auf grünen Teppichen, Kristine ließ die Zeit zurücklaufen, die Bilder kamen bruchstückweise. Sie sah den Mann im blauen Anorak, sie erinnerte sich an die schlagende Wagentür und den brummenden Motor, an Sand und Kies, die von den Reifen aufgewirbelt wurden. Was hatte sie gedacht, was hatte sie gefühlt? Dass sie den Mann gestört hatten. Aber das kann ich nicht sagen, dachte sie, das ist unsachlich. Ihnen geht es um präzise Beobachtungen, ich darf nicht dichten. Sejer und Skarre schwiegen, sie gingen, als ob sie zusammengehörten, als seien sie ein Paar, dachte sie, aufeinander eingespielt. Vertraulich.
    Sie hatten Sejers Büro erreicht. Kristine ging hinein und presste dabei ihre rote Jacke an sich. Mitten in diesem anonymen Gebäude aus Glas und Stein und Beton lag ein großes, helles Büro mit bunten Vorhängen. Sie prägte sich einzelne Details ein, einen prachtvollen Sessel mit hoher Rückenlehne, eine Lampe mit gelbem Schirm und darunter eine klobige Figur aus Salzteig. Der Zahn der Zeit hatte den Salzteig schimmeln lassen, aber es war noch deutlich zu sehen, dass die Figur einen Wachtmeister in blauer Uniform darstellen sollte. Auf dem Schreibtisch lagen eine Schreibunterlage und eine Weltkarte, ein Kugelschreiber bedeckte Italien und die tunesische Küste. An der Wand hingen Fotos. Ein Mann, der Sejer ähnelte, mit einem Hund. Ein dunkelhäutiger Junge von vielleicht fünfzehn. Auf einem Tisch standen Grünpflanzen, es gab einen Schrank und einige rote Ordner in einem Regal. Kriminalfälle, dachte sie, Menschenschicksale. Tod und Elend. Der Junge, den sie gefunden hatten, würde ebenfalls in diesem Regal untergebracht werden, zu einem solchen roten Ordner werden.
    »Wissen Sie, wer er ist«, flüsterte sie. »Ich meine, der Junge?«
    »Wir glauben, ja«, sagte Sejer.
    Sie faltete die Hände im Schoß. Sie sah aus wie ein schüchternes Schulmädchen, das um die Erlaubnis zum Reden bittet.
    »Sie haben oben bei der Schranke einen Mann beobachtet«, begann Sejer. »Wir brauchen seine Beschreibung, denn mit dem würden wir uns gern unterhalten. Was könnten Sie uns über Kleidung, Aussehen und Alter sagen?«
    »Er war groß«, sagte Reinhardt, »vielleicht eins fünfundachtzig.«
    Kristine schüttelte den Kopf.
    »Nein«, sagte sie. »So groß war er nicht. Er war viel kleiner als du, Reinhardt.«
    Sejer musterte sie gelassen. »Wir wollen uns hier nicht an Kleinigkeiten aufhängen«, sagte er sachlich. »Wie war er angezogen?«
    »Windjacke«, sagte Reinhardt. »Dunkelblau.«
    »Anorak«, korrigierte Kristine, »so ein alter, mit Gummizug in der Taille. Er hatte eine norwegische Flagge auf der Schulter. Auf der linken Schulter«, fügte sie hinzu und klopfte sich selbst auf die Schulter. »Seine Hose war weiß«, sagte Reinhardt.
    »Nein«, sagte Kristine. »Die war beige. Mit vielen Taschen auf den Oberschenkeln. Er trug Turnschuhe, braune. Sie waren ziemlich alt und schäbig.«
    Jacob Skarre notierte.
    »Alter?«, fragte Sejer.
    »Wir tippen auf Mitte vierzig«, sagte Reinhardt.
    »Und sein Körperbau?«
    »Naja«, sagte Reinhardt. »Wie gesagt, er war groß und schlank.«
    Kristine erwiderte Sejers Blick.
    »Es stimmt schon, dass er schlank war«, sagte sie, »ich meine, er war nicht dick oder kräftig. Aber er war breit. Wenn Sie verstehen. Um die Hüften.«
    Reinhardt verzog den Mund.
    »Konnten Sie sein Gesicht sehen?«
    »Er wirkte gestresst«, sagte Reinhardt. »Da sind wir doch einer Meinung, Kristine?«
    Die Frage klang wie ein Befehl.
    Sejer sah Kristine an. »Hatten Sie auch diesen Eindruck? Dass er gestresst war?«
    »Vielleicht war er nur menschenscheu, aber jedenfalls ist er schrecklich zusammengezuckt, als er uns gesehen hat. Das ist aber vielleicht kein Wunder, wir sind ziemlich plötzlich aufgetaucht«, erklärte sie.
    »Sonst noch etwas?«
    »Er hatte hellblonde Haare«, sagte Reinhardt.
    »Nein«, sagte Kristine. »Grau. Er hatte die Haare nach hinten gekämmt, und im Nacken waren sie ziemlich lang. Und leicht gelockt«, fügte sie hinzu.
    »Was ist mit dem Wagen?«, fragte Sejer.
    »Der war weiß«, sagte Kristine, »und ziemlich
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