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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
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war stolz auf meine Wahl gewesen und hatte gehofft, angenommen zu werden, aber es liegt nicht in der Natur des Menschen, das Fremde ohne Widerstand anzunehmen. Solche Ehen gehen immer auseinander und mit viel mehr Bitterkeit als zwischen Menschen derselben Herkunft, hatte eine von Jeromes Bekannten am Anfang gesagt. Diese Prophezeiung zumindest haben wir widerlegt, so gut wir konnten. Aber ich bin eine andere geworden, und ein Anknüpfen an früher ist nicht mehr möglich.
    Was vom Trauerjahr übrigbleibt, liegt vor mir wie eine amorphe, undurchdringliche Masse. Aber wie die vergangenen Monate zerfällt es allmählich in Tage und Wochen, in einen Alltag, der mich von Jerome entfernt, jeden Tag ein wenig mehr und viel zu schnell. Täglich durchmesse ich jetzt altes
Territorium, und der Kalender füllt sich mit Vergangenheit, das alte Leben ist stärker als die Gegenwart, und die Erinnerung ist gegenwärtiger als der Alltag. Im September vor zweiunddreißig Jahren wurde ich schwanger, erinnere ich mich, jeden Tag ging ich um den Jamaica Pond spazieren, der See funkelte so kühl und einladend, nie wieder hatte ich ein so heftiges Bedürfnis, in ihn einzutauchen. Diesen September übersiedelt Ilana nach New York und schwärmt von ihrem Studio Apartment im zwölften Stock an der Upper Westside.
    Heute vor achtunddreißig Jahren, erinnere ich mich Anfang Oktober, lernte ich Jerome kennen, es war ein Freitag abend und ich war acht Jahre jünger, als meine Tochter jetzt ist. Wie schlecht wir die Zeit genützt haben. Das Leben, das wir uns am Ende vorstellten, als keine Zeit mehr blieb, war nur ein kurzer Blick auf ein Versprechen, wie es von Anfang an hätte sein können. Ich würde ihm, auch mit dem Wissen von heute, mein Leben ein zweites Mal anvertrauen, er hat es geformt, so wie ich das seine beeinflußt habe, wir haben einander die Identität gegeben, die zu unserer eigenen geworden ist. Wer wäre ich geworden ohne ihn? Ich will es nicht wissen.
    Im November komme ich für länger, habe ich ein paar Tage vor Jeromes Tod gesagt. Wäre er nicht gestorben, würde ich jetzt den Schritt aus meinem bisherigen Leben hinaus machen, die erzwungene Abstinenz, die mich von Amerika und Jerome fernhielt, endgültig beenden und Europa verlassen, um in Zukunft nur noch als Touristin zurückzukehren. Es hätte andere Verluste und andere Sehnsüchte mit sich gebracht, wer weiß, ob wir das Experiment geschafft hätten, ob wir die Zuneigung und die Zärtlichkeit im Alltag nicht schnell wieder aufgebraucht hätten.
    Im Internet halte ich mich über das Wetter in Massachusetts
auf dem laufenden. Anfang Dezember wütet ein Schneesturm über Boston, tobt um das leere Haus mit seinem schäbigen Dach.
    Im Jänner berichtet mir meine Tochter, daß sie sich in Manhattan an dem Platz fühle, wo sie hingehöre, und in ihrer Stimme höre ich die atemlose Begeisterung einer neuen Liebe.
    Unentwegt kommt es mir vor, als betrete ich neuen Boden, Jahreszeiten, Ereignisse, die ich nicht mehr mit Jerome teile und die er zum erstenmal nicht mehr erlebt. Ich fürchte mich davor, daß das Jahr vergeht, ich wehre mich dagegen, die Erleichterung des Frühlings zu empfinden, des Aufblühens, das vom Tod wegführt. Die Hartriegelsträucher auf Beacon Hill werden an den Hauswänden blühen wie in jedem Vorfrühling, und im April, wenn der Wind aufkommt, werden sie über den Rasen des Public Garden wehen wie weißer Regen, dann wird sich Jeromes Tod zum erstenmal jähren. Wenn er jetzt, in diesem Frühling, dort wäre, würde ich zurückkehren wie aus der Verbannung. Wir würden im schweigenden Einverständnis im Public Garden sitzen, mit dem Blick auf die hellgrünen Zweige der Trauerweiden, die wie Seetang im Wasser treiben, vor uns die taubengrauen Umrisse des Hancock Tower, wir hätten unsere Probezeit hinter uns und könnten noch einmal von vorn beginnen mit der Gewißheit, daß unsere Liebe das Wertvollste war, was wir bekommen konnten. Wir würden nicht mehr Abschied nehmen müssen, denn auch der Tod läge hinter uns.
    Im März berichtet Ilana, daß die Premiere ihres ersten Theaterstücks für den September festgesetzt ist, und weißt du wo? fragt sie aufgeregt. Im Repertory Theater in Providence, wo ich mit Dad in meiner Highschool-Zeit immer war.
    In den ersten Wochen rufe ich jeden Samstag in dem leeren
Haus an, hoffe jedesmal von neuem gegen jede Vernunft, daß das Unmögliche geschehen könnte, daß ich Jeromes Stimme höre oder zumindest die eines
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