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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
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Verwechseln ähnlich, und die Sehnsucht nach ihm wächst. Trotzdem weiß ich, daß er nirgends ist, an keinem Ort, daß seine Abwesenheit ein Nichts in der Welt ist, die sich ohne Narbe und ohne etwas zu vermissen über ihm geschlossen hat.

VI
    Jahrzeit
    Es ist sehr klar und kalt an diesem letzten Apriltag, dem zwölften Iyar, der Wind fährt eisig über die Gräber, und außer uns ist niemand auf dem Friedhof. Wir stehen vor Jeromes Grabstein. Ich muß es mir langsam vorsagen, um es zu begreifen: Jeromes Stein. Schwarzer, glatter Marmor. Wir legen unsere kleinen Steine auf den breiten Rand. Der Platz für zwei Gräber neben dem seinen ist leer, Jeromes Grab ist eingeebnet und spärlicher Rasen beginnt darauf zu wachsen. Geliebter Vater, Sohn, Bruder, Freund steht darauf eingemeißelt. Für mich gibt es keine Bezeichnung, was war ich für ihn? Fünfunddreißig gemeinsame Jahre, und es gibt kein Wort dafür? Ich wünschte, es stünde da: beloved husband, denn nichts anderes war er für mich allen Konventionen zum Trotz, bis der Tod uns trennte, die wichtigste Beziehung in unserem Leben, und es ist, als existiert sie nur in meiner Vorstellung.
    Harold und Louise schneuzen sich, Ilana weint. In den Monaten nach seinem Tod konnte ich schon am Eingang zum Friedhof meine Tränen nicht mehr zurückhalten, aber jetzt starre ich auf den Stein und auf die Inschrift und wünsche mich weit weg. Wie immer stehen wir an seinem Grab wie an einem Krankenbett. Hier finde ich Jerome nicht. Hier begruben sie nur seine Leiche. Ich empfinde nichts als die Kälte des eisigen Winds, der vom Meer her kommt. Vielleicht sind es auch die Menschen neben mir, die diese Kälte in mir erzeugen,
mein Schwager und seine Frau, Louise, Leslie, Philip, alle, die sich von der Inschrift beloved friend angesprochen fühlen. Den Rabbiner, der routiniert die Gebete spricht, kenne ich nicht, aber er scheint es gewohnt zu sein, daß Töchter am Grab ihres Vaters Kaddisch sagen.
    Sag, wann du gehen willst, flüstert Ilana.
    Jederzeit, wenn es dir recht ist, sage ist.
    Ich sehne mich nach unserer Bank im Public Garden. Dort kann ich mit ihm reden, denke ich, dort werden wir für den Rest meines Lebens aufeinander warten. Ilana ist diesmal nicht allein gekommen, es gibt einen neuen Mann in ihrem Leben, und sie sind mit der für Verliebte natürlichen Ausschließlichkeit miteinander beschäftigt, ich weiß, sie hat ihn mitgebracht, um ihn ihrem Vater vorzustellen, deshalb sage ich ihr in einem ungestörten Augenblick: Er hätte Dad gefallen.
    Auf dem Weg zum Restaurant fahren wir an unserem Haus vorbei. Der verwitterte Lattenzaun ist weg, die Mulde vor der Einfahrt, in der das Wasser nie ganz austrocknete, ist aufgefüllt, die Türen und Fenster sind neu, mit leuchtend weißen Plastikrahmen. Statt der Rosen und der Lavendelstauden stehen zwei gedrungene lehmfarbene Gnome, amerikanische Versionen von Gartenzwergen. Lamellenjalousien versperren den Blick in Küche und Eßzimmer. Ich hoffe, Ilana kommt nicht auf den Gedanken anzuklopfen und sich einladen zu lassen, das Haus zu inspizieren. Aber niemand scheint da zu sein.
    Später, am Abend, sitze ich im letzten kalten Licht auf unserer Bank. Nach dem jüdischen Kalender ist ein Jahr seit seinem Todestag vergangen, es ist der dreißigste April. Und es ist genau ein Jahr, seit wir hier, auf derselben Bank, das letztemal zusammensaßen und von der Zukunft redeten. Hier kann ich mit Jerome reden, und weil niemand mehr im Park ist, rede
ich laut mit ihm, sage ihm, wie sehr er mir noch immer fehlt. Warum haben wir einander so sehr verfehlt? frage ich, flehe ihn an, mir ein Zeichen zu geben, daß er mich liebt, lauter sinnlose Dinge, aber wenn ich hier sitze, glaube ich mit meiner ganzen irrationalen Überzeugung an ein Wunder. Im Leben hat er mir fast jeden Wunsch erfüllt, nicht immer gleich, aber am Ende doch, deshalb kann ich es nicht akzeptieren, daß er mir diesen größten Wunsch versagt, plötzlich dazusein und zu vollenden, was wir auf Tag und Stunde genau vor einem Jahr begonnen haben. Hier kann ich ihn lieben, die Liebe schiebt sich vor alle anderen Gedanken und ist ein großes, weites Gefühl, das die Gegenwart erfüllt. Sie breitet sich über die ganze Stadt, die Wolkenkratzer von Downtown Boston im Abendlicht, den Teich, die Trauerweiden, die ihre grünen Schleier ins Wasser tauchen. An allen Orten, an denen wir zusammen waren, empfinde ich einen bitteren und zugleich glücklichen Schmerz, und die Straßen,
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