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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
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zu viert. Suzanne bringt Challah von Cheryl Ann’s Bäckerei, ich röste das letzte gefüllte Huhn in unserem Ofen und hole eine Flasche Burgunder aus Jeromes Weinkeller. Jeromes Sessel ist leer, ich sitze ihm gegenüber. Als ich den Segensspruch über
das Brot sagen will, versagt mir die Stimme. Ich öffne und schließe den Mund, und es kommt kein Ton heraus. Erst im Lauf des Abends kehrt meine Stimme zurück, und wir geben vor, es sei nichts gewesen.
    In den letzten Tagen vor der Abreise kaufe ich ein, als ginge ich in die Wildnis, alles, was ich in Europa nicht bekommen kann, Pepperidge Farm Cookies, extrascharfen Cheddar Cheese aus Vermont, Clam Chowder, Schabbatkerzen, Jahrzeitkerzen, Bücher. Ich lasse mir zum erstenmal seit vierzig Jahren die Haare kurz schneiden. Jerome liebte mein langes Haar, er mochte es, wenn ich es offen trug, es über sein Gesicht fallen ließ und ihn mit meinem Haar einhüllte wie in ein Zelt.
     
    Für jede Zeitspanne gibt es ein letztes Mal, wenn man das Gepäck aufnimmt, einen letzten Blick auf die leeren Räume wirft, die trotz ihrer Vertrautheit bereits begonnen haben, fremd zu werden, ein letztes Mal die Haustür absperrt und in der Einfahrt sich noch einmal zum Haus umwendet, sich die Dunkelheit der leeren Fenster, die unscheinbare Fassade einprägt, und an der Kurve ein allerletztes Mal zurückschaut. Aber die letzten Blicke gelten nicht wirklich dem, was ich vor mir sehe.
    Ich erinnere mich an die Tage, an denen mein Koffer gepackt an der Tür stand und wir uns darauf besannen, daß wir zusammenbleiben und nie mehr Abschied nehmen wollten. Verhaltene Trauer und Beklemmung lagen über den letzten Stunden, und Jerome war besonders zärtlich und aufmerksam.
    Was möchtest du als Henkersmahlzeit, bevor wir zum Flughafen fahren, fragte er.
    Ich weiß nicht, sagte ich rücksichtsvoll, weil ich ihm die Fahrt zum Supermarkt, in dem es das beste Sushi gab, ersparen wollte.

    Aber ich weiß es, sagte er, willst du mitkommen?
    Ist es dir nicht ein bißchen zu weit? fragte ich.
    Egal, es ist deine letzte Mahlzeit. Dann komm, sagte er und griff nach dem Autoschlüssel. Und immer dachte ich an solchen Tagen, so müßte es bleiben, das Leben war auf einmal von solcher Einfachheit und Harmonie. Warum fliege ich eigentlich fort, wunderte ich mich, wem fehle ich denn außer ihm? Dann schien es mir, als hätten wir unseren letzten Ausbruchsversuch hinter uns und es müsse nie mehr einen Abschied geben.
    Ilana kratzt einen ausgefransten vertrockneten Fleck Möwendreck von der Windschutzscheibe. Vogeldreck bringt Glück, heißt es, sagt sie lakonisch, was ich in diesem Sommer schon an Vogelscheiße entfernt und an Scherben aufgekehrt habe, reicht für ein ganzes glückliches Leben.
    Der dichte Schleier eines Sommerregens verwischt die Landschaft und entrückt die Vorstädte, bevor wir auf dem Highway nach Norden fahren. Es ist ein weiches, alles umhüllendes Nieseln, das die Geräusche dämpft, und ich bin froh, daß die Wolken tief hängen und die Skyline von Boston von Dunst und Nebel verwischt ist, damit ich den Anblick und den Schmerz leichter ertrage. Ich möchte mich festklammern an dieser Stadt, die ich als Zwanzigjährige zum erstenmal besucht habe, in die ich vierzig Jahre immer wieder heimgekommen bin.
    Ilana ist das einzige, was mir auf diesem Kontinent bleibt. In einem halben Jahr werde ich zur Grabsteinenthüllung wiederkommen. Ich hätte lieber einen Baum in die aufgewühlte Erde über Jeromes Sarg gepflanzt, damit er das, was von Jerome übrigbleibt, in seine Wurzeln hülle, aber ich spreche den Wunsch nicht aus. Außer den Grabsteinen gibt es auf seinem Friedhof nichts, das aufrecht stehen darf.

    Als ich Ilana am Flughafen umarme, bemühe ich mich, nicht an den letzten Abschied an derselben Stelle vor vier Monaten zu denken und nichts zu versprechen, das mit nächstes Mal beginnt.

    Mit welcher Geschwindigkeit die Ufer des Atlantiks auseinanderfahren und die Küste Neuenglands in unerreichbar weite Ferne zurückweicht. Dreißig Jahre lang war ich sicher gewesen, das Land zu kennen, und es hatte nur der vier letzten Monate bedurft, um diese Gewißheit zu erschüttern. Außer meiner Tochter und Suzanne mit Rachel ist mir dort nichts geblieben, nur die Stadt selber, die Landschaften, die vielen durch Erinnerungen verklärten Orte und unsere Bank im Public Garden. Ich hatte den Ort meiner Kindheit freiwillig verlassen und einen anderen für mein erwachsenes Leben gewählt, und ich
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