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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
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des Spiels nicht müde, klammerte sich an ihm fest und schrie vor schauriger Wonne. Jeden Abend setzt sie sich zu mir auf die Veranda, und wir spielen Weißt-du-noch, und dann geht sie und ich weiß, sie sagt allein in ihrem Zimmer Kaddisch, bevor sie nach dem Essen mit den Kindern Scrabble spielt oder mit ihrem Auto in die Nacht entschwindet.
    Es wäre eine peinliche Entgleisung, an diesem heiteren Ort über den Tod zu reden. Mein Bedürfnis, die Menschen
mit den Schrecken der Ewigkeit zu konfrontieren und ihnen keine Ausflüchte zu erlauben, hat sich gelegt, aber sie gehen mir behutsam, auf Zehenspitzen aus dem Weg, um meinen Kummer nicht zu wecken und sich unangenehme Gespräche zu ersparen. In ihren Augen leide ich noch immer an der anrüchigen Krankheit Trauer, manchmal trifft mich ein betretener Blick, aus dem ich lese, daß meine Gegenwart ihren Feriengenuß schmälert. Ein letztes Mal erlebe ich die Atmosphäre der Sommerfrische am Meer, gegen Abend, wenn die salzige Brise vom Wasser her die träge Hitze aufrührt und die Gesprächsfetzen von den Veranden angrenzender Cottages herüberträgt. Ich nehme daran teil, als säße ich im Kino, und starrte auf die Leinwand mit Aufnahmen eines weißen Strandes und bunter Sonnenschirme, von Menschen, die gerade aus dem Wasser kommen oder ins Wasser gehen und einer glitzernden endlosen Wasserfläche. Ich bin in den Wochen und Monaten seit Jeromes Tod menschenscheu geworden, und in meinem Gedächtnis suche ich unentwegt nach Erinnerungen an uns drei vor zwanzig, vor fünfundzwanzig Jahren, den in der Gegenwart ausgesparten weißen Flecken Vergangenheit. Und wenn es mir gelingt, mich zu erinnern, so lebhaft, als würde die Wirklichkeit vor meinen Augen gegen eine andere, unsichtbare vertauscht, erfaßt mich die Sehnsucht mit einer Intensität, als könne ich Jerome dazu zwingen, leibhaftig zu erscheinen. Aber wen meine ich, wenn ich mir diese Liebe vergegenwärtige? Mein Bild von Jerome? Aus welcher Zeit? Als wir uns kennenlernten? Als jungen Vater? Als das Versprechen einer Zukunft, die es nicht geben wird? Wie soll ich mir das einzige, allein richtige Bild von ihm machen, wenn ich mich selber nicht verstehe? Zum letztenmal verbringe ich ein paar Sommerwochen auf dem schmalen Küstenstreifen am
Atlantik, der vierzig Jahre lang wie ein Wartezimmer für mich bereitstand, damit ich es betrete. Komm herein oder geh, hatte Jerome einmal gesagt, aber blockiere nicht den Eingang. Aber ich zögerte zu lang, jetzt wird es geschlossen, alles, der Küstenstreifen mit den Dünen im Süden und den steinigen Stränden im Norden, den Leuchttürmen und den Fischerdörfern mit ihren kleinen, weißen Häusern und breiten Veranden, den wilden Rosen und den weißen Kirchtürmen, den gewundenen Landstraßen zwischen Kiefernwäldern, Marschland und dem Meer in seiner unendlichen Wandlungsfähigkeit.
    Erst am Abend, wenn die Badenden den Strand verlassen haben und die Flut sich mit hohen, weißen Gischtkämmen heranwälzt, gehe ich hinaus. An manchen Tagen, nach einem Sommerregen, ist es so einsam und menschenleer am Rand des Wassers, als stünde man am Tor zum Jenseits. Die Unendlichkeit und Einsamkeit am Rand des Atlantiks übt eine hypnotische Anziehung aus, verlockt dazu, immer weiterzugehen, dem dunklen Licht zwischen Wasserfläche und Horizont entgegen, während im Westen bereits die ersten Sterne am nachtblauen Himmel flimmern. Es kommt mir vor, als habe dieser schmale Spalt Helligkeit am Horizont auf eine unerklärliche Weise mit dem Tod zu tun, als ziehe sich alles auf diesen einen unbegreiflichen Punkt zusammen, der einen Sinn verbirgt, eine Erklärung, einen Trost. Wie folgt man einem geliebten Menschen in den Tod, ohne das Leben zu verlieren? Wie holt man ihn zu sich zurück? Und dann schließt sich die Wand zwischen Wasser und Himmel, und es war nichts, nur ein Bild, ein Vorwand für eine sehnsüchtige Phantasie. Wer für den Tod Metaphern findet, war ihm nie wirklich nah genug. Vor dem Tod haben Denken und Phantasie ein Ende, das hatte ich, trotz aller Sehnsucht nach Jerome, von allem Anfang an begriffen,
nicht mit dem Verstand, sondern mit einer Gewißheit jenseits der Sprache. Der Tod hat am Leben keinen Anteil, und es gibt keine fließenden Übergänge, er ist nicht der entfernte Pol eines begehbaren Spektrums, sondern ein Bruch, vor dem ich immer wieder zurücktaumle. Hier ist das Leben, und solange ich im Wasser immer weiter auf den Horizont zugehe, lebe ich, und spiele mit
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