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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
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hat, Rasierwasser und goldene Manschettenknöpfe, eine goldene Krawattennadel mit seinen kunstvoll verschnörkelten Initialen, er trug nie Manschettenknöpfe, er machte sich mit der Zeit immer weniger aus Äußerlichkeiten.
    Wäre der Kontrast zwischen der Unordnung rundum und der peinlichen Ordnung in den unteren Schreibtischladen nicht so auffallend gewesen, hätte ich wahrscheinlich ihren Inhalt in meiner Hast, die sich aus purer Erschöpfung von Zeit zu Zeit bis zur Vernichtungswut steigert, einfach in einen Müllsack gekippt. Aber die Genauigkeit, mit der die Akten beschriftet und abgeheftet sind, und die Jahreszahlen machen mich neugierig. Es ist ein Dossier von vielen hundert Seiten, angelegt wie für einen Prozeß, der entweder nie zustande kam oder gar nicht beabsichtigt war, und es umspannt viele Jahrzehnte, die ersten Blätter gehen bis auf die frühen fünfziger Jahre zurück und sind mit der Hand geschrieben. Briefe auf Deutsch, in Kurrentschrift, die ich nicht entziffern kann, eine von Jeromes Onkel angelegte Akte über einen Deutschen mit dem Namen Heribert Hacker, geboren 1912, der auch eine Korrespondenz mit dem Roten Kreuz enthält, schriftliche Ansuchen an deutsche Behörden, aber erst, als ich den Mädchennamen von Jeromes Mutter finde, begreife ich die Zusammenhänge. Es geht um Jeromes Tante, die ermordet wurde. Deshalb war Jerome in den sechziger Jahren so oft in Israel,
um Gewißheit über die Umstände ihres Todes zu bekommen. Die Daten zusammenzutragen muß Jahre gedauert haben, eine Zeitspanne, die an den kleinen Veränderungen seiner schwer leserliche Handschrift abzulesen ist, an den wechselnden Farbbändern seiner alten Olivetti-Schreibmaschine, von den verblaßten Schreibmaschinendurchschlägen bis zu den ersten FAX-Ausdrucken mit ihren perforierten Rändern. Paula Hocheiser hieß seine Tante vor ihrer Hochzeit, und ihre ganze Lebensgeschichte ist dokumentiert, Geburtsurkunde, Schulzeugnisse, der Meisterbrief als Modistin aus dem Jahr 1930, sie war zehn Jahre älter als Jeromes Mutter, eine Abschrift ihres Trauscheins vom Standesamt München, und ein Dokument, das Jerome nie erwähnt hatte, eine Scheidungsurkunde vom September 1938. Im gleichen Jahr trat Heribert Hacker in die NSDAP ein, bei Kriegsausbruch war er Offizier der Luftwaffe. Von keinem der beiden gibt es Fotos, es gibt überhaupt keine Fotos in dieser Akte, aber ich stelle mir Paula mit den Gesichtszügen von Jeromes Mutter vor. Sie haben sich bemüht, den treulosen Deutschen ausfindig zu machen, zuerst Jeromes Onkel, ein erfolgreicher Anwalt für Zivilrecht, dann Jerome. Auch sein Jugendfreund Herb trug mit Nachforschungen dazu bei, die vielleicht nur einem CIA-Agenten zugänglich waren. Es gibt eine kurze Korrespondenz mit Simon Wiesenthals Dokumentationsarchiv. Aber Heribert war kein Mörder im üblichen Sinn, und wer, außer den Eheleuten, konnte bezeugen, daß die Scheidung erzwungen war? Wie zieht man einen Feigling zur Verantwortung? Eine Klage wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolgen liegt ausgearbeitet in Jeromes Schreibtisch. Aber den Luftwaffenoffizier konnte er nicht stellen, er hätte schon nach Deutschland reisen und ihn ermorden müssen.

    Ich lese die Argumente, die Jerome gegen den Ehemann Paulas vorbringt, und sehe sein Beharren auf einer Art von Treue, die Verantwortung meint, über alle Zerwürfnisse, Seitensprünge und Trennungen hinweg, in einem neuen Licht. Zedaka, Mildtätigkeit, bedeutete für Jerome eine Gerechtigkeit, die jedem zustand, auch dem Feind, um so mehr den Menschen, die ihm anvertraut waren. Und Zedaka war es, nicht Treue und auch nicht Freiheit, was er in unserem Verlobungsvertrag festschreiben wollte. Du hättest mich schon allein aus Trotz und Abscheu vor den Nazis versteckt, auch wenn du mich nicht hättest ausstehen können, sagte er einmal am Anfang unserer Beziehung, und diese Gewißheit über mein Verhalten in der Extremsituation schien ihm wichtig zu sein. Immer wenn wir in Österreich oder in Deutschland reisten, war die erste Frage, die er sich stellte, wenn er jemanden kennenlernte: Hätte der mich versteckt oder angezeigt? Einmal fuhren wir nach Mauthausen. Ich erinnere mich, wie er die Luft scharf einzog, als die Festungsmauern hinter einer Kurve plötzlich vor uns aufragten. In der Gaskammer schloß er die Tür hinter uns und öffnete sie, schloß sie und öffnete sie. Ich wollte die Erleichterung spüren, sagte er danach, daß sie wieder aufgeht. Er wurde mitten
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