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Wenn du wiederkommst

Titel: Wenn du wiederkommst
Autoren: Anna Mitgutsch
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im Zweiten Weltkrieg geboren, und die Vernichtung der europäischen Juden, die Ermordung seiner Verwandten war immer gegenwärtig, in unseren Gesprächen, in seiner Lektüre und seinen Gedanken, fünfzig Jahre lang war sie der Bezugspunkt zu allem, was in der Welt geschah. Seine Eltern hatten die Kinder von allem Beunruhigenden ferngehalten, und in der Schule hatte man versucht, die Konzentrationslager als Gefangenenlager darzustellen, erzählte Jerome, die Deutschen hätten im Krieg hungern müssen und die gefangenen Juden eben auch. Vielleicht war es
der unheimliche Verdacht eines Kindes, daß die Wirklichkeit einen doppelten Boden hat, daß etwas unter der Oberfläche liegt, das man vor ihm verbirgt, was uns, die wir aus entgegengesetzten Richtungen kamen, ähnlich geprägt hatte.
    Im Grund war meine Mutter schwermütig und ängstlich, hatte er einmal gesagt. Es sei schlimm für ein Kind, wenn es die Trauer seiner Mutter spüre und die Ursache nicht kenne, nicht einmal danach fragen könne, weil es keine Wörter dafür gebe, weil niemand darüber rede. Der Optimismus war manchmal so offenkundiges Theater, erzählte er, daß wir vor lauter Fröhlichkeit ganz hysterisch wurden. Irgendwann habe sich diese Scheu vor dem Verschwiegenen auf ihn und Harold übertragen.
    In seinem holzgetäfelten Erinnerungskabinett im Souterrain verdichtet sich die Geschichte unseres Jahrhunderts zu zwei Lebensgeschichten, und auch hier blieb ihm der Erfolg, den treulosen Nazioffizier zu stellen, versagt. Wie empörend für sein Rechtsempfinden: Ein Mord war geschehen, der hätte verhindert werden können, und der Schuldige war niemals zur Verantwortung gezogen worden, es gab keine ausreichenden Rechtsmittel dafür. Unerträglich, sich damit abfinden zu müssen. Vielleicht befolgte er den Fluch - sein Name möge ausgelöscht sein -, wenn er mir diesen Teil von Paulas Biographie verschwieg. Oder er verweigerte sich der Vergeblichkeit so, wie er bis zum Schluß seiner Angst vor dem Tod ausgewichen ist, weil seine Lebensfreude immer wieder triumphierte.
    Unserer Kindheit hat es an Leichtigkeit gefehlt, hatte Harold während der Fahrt durch die Straßen Westons behauptet. Während der Schiwa-Woche hatte er meine Empörung über frühere Freunde wie Jules, die Jerome gekränkt und verraten hatten, und nun als Trauergäste in unserem Haus erschienen,
mit der Bemerkung abgetan: Jerome hat auch dazu geneigt, sich zu beklagen, anstatt die Dinge zu nehmen, wie sie sind.
    Hattest du den Eindruck, daß dein Vater schwermütig war, frage ich Ilana am Abend am Telefon.
    Nein, sagt sie und lacht, verdrießlich konnte er sein, launenhaft, das schon. Eines weiß ich mit Sicherheit, er hat gern gelebt. Genau danach habe sie so große Sehnsucht, nach seinem Überschwang, seiner Freude an der Gegenwart, am bloßen Dasein, er habe jede simple Aktivität zum Fest gemacht.

    Das Haus ist leer, die Zimmer verwaist. Das Telefon ist stumm, außer Ilana ruft niemand mehr an. Ich sitze auf der mitten im Wohnzimmer verbliebenen alten Matratze, als sei das Schiwa-Sitzen noch nicht zu Ende, und die Stunden und Tage gehen an mir vorbei. Die Monate seit Jeromes Tod waren ein Übergang, bei dem ich mir das Gefühl bewahrte, ich sei nicht allein, das starke Gefühl einer Gegenwart neben mir verleitete mich manchmal zu der ungewissen Hoffnung, alles sei nur ein böser Traum und ich würde am Ende zu unserem gewohnten Leben zurückkehren wie in ein Haus, das die Handwerker eine Weile okkupiert und nun für den Neuanfang eingerichtet haben. Der Schlußstrich unter diesen Traumzustand wird der Verkauf des Hauses sein, und danach der zwölfte Iyar, nach dem jüdischen Kalender sein erster Todestag. Unmittelbar nach dem Begräbnis war ein Leben zu bewältigen gewesen, das von allem Gewohnten abwich, und im Lauf der Monate war der Ausnahmezustand Alltag geworden, und ich habe mich in der Vorläufigkeit eingerichtet. Nun weisen die Tage nicht mehr über sich hinaus, sie sind so leer wie die Muscheln auf
den Regalen, die wegzuwerfen mir nicht gelingt. Es erstaunt mich, woran man sich gewöhnen kann, sogar an eine Gegenwart ohne Zukunft.
    Manchmal schraffiert der Regen den Fluß mit harten Strichen, so hart und kalt, wie am Tag von Jeromes Begräbnis. Danach kehrt der feuchtheiße Sommer zurück, und die schwüle Hitze entlädt sich gegen Abend in schweren Gewittern und Wolkenbrüchen. In den Nächten ziehen die ersten Entenschwärme mit rauschendem Flügelschlag nach Süden. Ich
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