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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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amerikanischer Bar. Es gab helle gedrechselte Holzmöbel und Rüschengardinen. Um die Gardinenleisten wanden sich Kunstblumengirlanden. In der Mitte des Raumes stand ein Billardtisch und neben dem Tresen eine Tischbowlingbahn. Die Kugel hing an einer Strippe von der Decke. In der Jukebox lief Johny Cash.
    Sie saßen am Tisch, tranken Cola und aßen das »Italian Meal«, das aus geschmacksneutralen Fleischbällchen, wässriger Peperonisoße und Nudeln bestand. Der Wind drückte den Regen gegen die Scheiben, und das Rauschen übertönte beinahe die Musik.
    Als Jonny Cash zu Ende gesungen hatte, ging Roswitha zur Jukebox. Seit ihrer Kindheit liebte sie Musikautomaten. Ein selbst gewähltes Lied war der Höhepunkt eines Gaststättenbesuchs gewesen. Beim Modell »Sachsenklang« musste man die kleine Schallplatte noch selbst in einen Schlitz stecken, bei späteren Ausführungen legte sich die Schallplatte wie von Geisterhand allein auf den Plattenteller. An Glückstagen bekam Roswitha von ihrem Vater Kleingeld und durfte ein Lied auswählen.
    Drei Titel für zwei Dollar war ein guter Preis. Roswitha kämpfte sich durch die endlosen Listen der Countrytitel. Auf der letzten Seite fand sie endlich, was sie suchte: Janis. Leider gab es nur einen einzigen Titel: »Ball and Chain«. Roswitha drückte ihn dreimal.
    Die Jukebox der modernen Zeit hieß YouTube. Roswitha verbrachte Nächte mit dem Ansehen von Musikvideos. Nach Mitternacht, wenn die Welt still wurde, saß sie im Dunkeln und sah sich die Aufnahmen an, die ihr früher vorenthalten worden waren.
    Sie liebte es, wenn Tom Jones sagte: »And now, ladies and gentlemen: The legendary Miss Janis Joplin.« Dann sang Janis Roswithas Lieblingslied, den Judy-Garland-Titel »Little girl blue«. Das war der Olymp.
    Die Frau am Tresen guckte kurz auf, als Janis zu singen begann, und als Janis zum dritten Mal am Ende des Titels »It’s all the same fucking day« sagte, lachte die Frau. Eigentlich hätte Roswitha jetzt Southern Comfort bestellen müssen. Doch selbst mit großem Wohlwollen gelang es ihr nicht zu begreifen, wieso Janis flaschenweise dieses süße Zeug getrunken hatte.
    Wenn die Jukebox schwieg, war der Fernsehton zu hören. Wieder wurde vor dem Sturm gewarnt und allen geraten, sich mit Vorräten einzudecken und zu Hause zu bleiben. Die Aussicht auf zweihundert Hot Wings war eine Beruhigung, zumindest was die Verpflegung anbetraf. Aber was würde aus dem Ausflug zu Mick werden?
    Der Cowboy spendete zwei Dollar für eine neue Runde Janis. Obwohl es nur noch dreißig Meilen waren, gab er Roswitha vorsichtig zu verstehen, dass er es unter diesen Bedingungen unklug fände, weiter in Richtung Woodstock zu fahren und lieber noch warten würde, bis sich das Wetter vielleicht besserte.
    Roswitha lief auf dem vorgeschriebenen Trampelpfad zum Kühlschrank und holte sich ein Bier. Da saß sie nun, wenige Meilen vor Woodstock, mit zwei Jungs, die sie eigentlich gar nicht richtig kannte, in einer düsteren Bar zwischen Kunstblumenarrangements, trank Bier, das nach allem anderen als nach Bier schmeckte, Janis sang passend »sitting down by my window, looking at the rain«, und der Mann hinter dem Tresen lächelte mit verrutschtem Gebiss. Roswitha bedauerte, dass sie Leonard und den Sarg nicht mitgenommen hatten.
    Sie stand auf, um sich ein zweites Trostbier zu holen. In diesem Moment klingelte das Mobiltelefon des Cowboys. Es war nicht Mick, wie Roswitha gehofft hatte, sondern die Königin. »Du sollst nach Hause kommen«, sagte der Cowboy, »United hatdeinen Flug vorverlegt.« Er sagte tatsächlich »nach Hause« und meinte das »Shelter Park House«. Nie hätte Roswitha gedacht, dass sie sich einmal freuen würde, wenn jemand ein Obdachlosenhaus als ihr »Zuhause« bezeichnete. Allerdings war das die einzige Freude. Das Leben war banal und ungerecht. Sie befand sich läppische dreißig Meilen vor dem Ziel und sollte nun umkehren und über 6000 Kilometer zurückfliegen? Der Cowboy ließ ihr keine Wahl. Selbst wenn sie sich weigerte mitzufahren, wäre eine Bar mitten im Wald kein empfehlenswerter Schutz vor einem nahenden Hurrikan. Die Natur hatte entschieden.
    Roswitha hatte Leonard versprochen, ein Andenken aus Woodstock mitzubringen. Sie ließ sich von dem alten Mann hinterm Tresen eine Aluschale geben, in die er sonst seine Hot Wings verpackte, ging in den strömenden Regen hinaus, riss ein Grasbüschel aus der Erde und legte es in die Schale.
    Schweigend fuhren sie bis New York.
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