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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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Der Cowboy wechselte mit Doc Snyder immer wieder Blicke, und beide wirkten bedrückt. Roswitha blieben zehn Minuten Zeit zum Kofferpacken. Gern wäre sie noch einmal auf das Dach gegangen, aber sie hatte Angst, dass der Wind die Tür beim Öffnen aus den Angeln heben würde. Roswitha nahm die Schale mit dem Grasbüschel und klopfte bei Leonard. Als niemand antwortete, öffnete sie vorsichtig die Tür. Leonard schlief. Roswitha legte das Grasbüschel unter sein Bett. Sie hatte einmal gelesen, dass die Einwohner der Toskana sich nach einem Umzug in eine fremde Gegend Heimaterde unters Bett stellten. Sie sah Leonard noch einmal an und ging leise aus dem Zimmer. Roswitha hasste Abschiede. Der Cowboy trug ihren Koffer zum Auto. »Hast du dein Ticket, den Pass?«, fragte die Königin wie eine besorgte Mutter; auch sie wirkte angespannt,aber wahrscheinlich war es die Angst vor dem nahenden Sturm.
    Roswitha suchte nach einem passenden Soundtrack für ihren Abschied. Ihr fiel nur Reinhard Mey ein: »Gute Nacht, Freunde, es wird Zeit für mich zu gehn, was ich noch zu sagen hätte, dauert eine Zigarette und ein letztes Glas im Stehn«. Abgesehen davon, dass Roswitha nicht mehr rauchte, wäre weder Zeit für eine Zigarette noch für ein letztes Glas gewesen. Vielleicht war es auch gut so, denn sonst wäre Roswitha vielleicht noch sentimental geworden.
    Sie kamen gut voran, die Sargreklame auf den Seitenwänden wirkte Wunder, und viele gewährten ihnen Vorfahrt. Der Cowboy trug ihr den Koffer in die Abflughalle. »Danke!«, sagte Roswitha und gab dem Cowboy seine Sonnenbrille zurück. Zwar war die Schwellung etwas abgeklungen, aber das Auge war immer noch blau, und das Hämatom zog sich über die gesamte Wangenpartie. Roswitha wusste nicht, ob sie den Cowboy jetzt umarmen sollte, und auch er schien unschlüssig. Am Ende gaben sie sich nicht einmal die Hand, sondern nickten sich nur zu.
    »See you soon!«, sagte der Cowboy, und Roswitha überlegte während er wegging, ob das eine Liedzeile war.
    Roswitha checkte ein und ging auf dem Flughafen spazieren. An der Anzeigetafel stand bei einigen Flügen der Anullierungsvermerk, und bei jedem Rattern der Tafel schreckte Roswitha zusammen, doch United Airlines blieb standhaft. Roswithas Flug war einer der letzten, der storniert wurde. Irgendwann kam die Durchsage, dass alle Gepäckstücke wieder ausgegeben würden. Sie war nicht sicher, ob sie jetzt erleichtert sein sollte. Auf den Fernsehschirmen in den Wartebereichen lief der Wetterbericht. Bunte Luftwirbel bewegten sich auf die Stadt zu, und Roswitha stellte beunruhigt fest, dass die animierten Pfeile genau in Höhedes Flughafens an Land trafen. Zuerst verschwanden alle Flugzeuge von den Freiflächen, dann alle Fahrzeuge. Jemand erzählte, dass die Subway ihren Betrieb eingestellt habe, auch Taxis würden nicht mehr fahren. Hin und wieder kam durch den Lautsprecher die übliche Ermahnung, dass sie ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen lassen sollten, da es sonst zerstört würde. Die Durchsage entbehrte nicht der Ironie, da sie alle auf ihren Koffern saßen. Wer eine Reisetasche hatte, war im Vorteil, da er sich mit dem Kopf auf die Tasche legen konnte, Roswithas Metallkoffer war dafür eher ungeeignet. Die Meteorologen hatten den Angriff der Natur auf neunzehn Uhr festgelegt.
    Hilfskräfte verteilten Klappliegen an ältere Menschen. Ein junger Mann bot Roswitha eine Liege an, und beinahe hätte sie trotzig abgelehnt. Da lag sie nun auf einer Klappliege, eine ältere deutsche Frau, die alles in ihrem Leben falsch gemacht hatte. Fast alles. Immerhin war da Oskar, der jetzt in London Kunst studierte. Zu Roswithas Entsetzen malte er wie Walter Womacka. Als vor einigen Jahren der Wandfries am Berliner »Haus des Lehrers« rekonstruiert werden sollte, hatte man während der Bauarbeiten die Bilder auf Folie gedruckt und die Banderole rund um das Haus gespannt. Nach Beendigung der Arbeiten wurde die Folie stückweise versteigert. Besonders Londoner Künstler fanden großen Gefallen daran, und der Malstil machte Schule.
    Nachdem sich die erste Aufregung nach dem Mauerfall gelegt hatte, richtete sich Roswitha in ihrem Leben ein. Sie schloss ihr Studium ab und gründete mit anderen Fotografen eine Agentur.
    Entgegen ihrem Gefühl der schwindenden Liebe blieb sie weiter mit Wladimir verheiratet, gemäß dem Grundsatz: »Was ist das Geheimnis einer langen Ehe? Man lässt sich nicht scheiden.«Am Ende hatte sie fünfundzwanzig Jahre gebraucht,
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