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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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des Saxofons fühlten sich an wie warme Erde. »Change is gonna come«, der wunderbare Sam-Cooke-Titel. Er hätte auch die Hymne zum Mauerfall sein können. Damals hatte Mick ihr am meisten gefehlt. »Change is gonna come, oh yes it will«.
    Der Untergang des Sozialismus hatte sich im Frühjahr ’89 angekündigt, wenige Tage vor Wladimirs Entlassung aus dem Krankenhaus.
    Von der Weltpresse weitestgehend unbemerkt, war der ungarische Ministerpräsident Miklos Nemeth nach Moskau zu Michail Gorbatschow gereist, um eine wichtige Angelegenheit zu besprechen: Die Grenzanlagen zu Österreich waren verrostet.
    Mitte der Sechzigerjahre hatte die Sowjetunion an dieser Grenze einen 270 Kilometer langen Metallzaun inklusive Sicherheitssystem installiert. Doch im Laufe der Jahre verfiel der Zaun. Die verrosteten Drähte gaben häufig Fehlalarm. Eine technische Überprüfung im Jahr 1987 ergab, dass die Anlage hoffnungslos verrottet war. Nun war guter Rat im wahrsten Sinne des Wortes teuer, denn die UdSSR wollte keinen neuen Zaun liefern und Ungarn kein Geld für die Sanierung ausgeben. Bereits 1988 hatte ein ungarischer Reformpolitiker verkündet, dass die Grenze zwischen Ungarn und Österreich »historisch, technisch und politisch« überholt sei. Und so informierte der ungarische Ministerpräsident Gorbatschow Anfang März 1989 darüber, dass es nur eine Lösung des Problems gebe: Der verrottete Zaun würde abgebaut. Und Gorbatschow versprach, sich nicht in die Bauarbeiten einzumischen.
    Am 27. Juni durchschnitten der österreichische und der ungarische Außenminister, nun im Beisein der Medien, gemeinsam den verrosteten Maschendraht.
    Es war eine Zeit, in der sich die Ereignisse überchlugen. Im Mai noch hatten Roswitha und Wladimir überlegt, ob sie zur Wahl gehen sollten. Wobei das Wort »Wahl« ein irreführender Begriff war. Richtiger wäre »ungeliebte Pflichterfüllung« gewesen. Man ging hin, ließ sich den Zettel geben und steckte ihn in die Urne, schämte sich ein bisschen für seine Feigheit und ging wieder. Die Benutzung einer Wahlkabine war unüblich. Wer die Wahlkabinebenutzte, machte sich verdächtig, weil es nur einen Grund dafür geben konnte: Er war dagegen, also ein Staatsfeind. Nur die Mutigen trauten sich, in die Wahlkabine zu gehen. Eine weitere Möglichkeit war, gar nicht zu wählen. Dafür hätte man wenigstens eine Ausrede finden können: »Ich habe es vergessen, ich war krank, ich habe meinen Wahlschein verloren!« Doch auch das war gar nicht so einfach zu realisieren, denn am Nachmittag begannen Wahlhelfer zur Erinnerung bei all jenen zu klingeln, die ihrem »Wahlrecht« noch nicht nachgekommen waren, und wer bettlägerig war, durfte an der »fliegenden Urne« zu Hause wählen. Roswitha und Wladimir zogen es vor, bis zum Abend mit Oskar spazieren zu gehen.
    Als die Wahllokale schlossen, fanden sich, erstmals zu einer Wahl, Hunderte Freiwillige ein, um die Auszählung der Stimmen zu kontrollieren. Damit gab es vielerorts keine Möglichkeit zur Manipulation. Trotzdem verkündete Wahlleiter Egon Krenz am Abend im Fernsehen das Ergebnis von 98,85 Prozent »Ja-Stimmen«. Die Auszählung der oppositionellen Gruppen hatte aber mindestens sieben Prozent Gegenstimmen ergeben, ganz abgesehen von den Stimmenthaltungen. Konfrontiert mit dem Vorwurf der Wahlfälschung, schob Krenz daraufhin den Bürgermeistern der jeweiligen Städte die Schuld zu und gab vor, sie hätten ihm aus »falsch verstandenem Wettbewerbsgeist« ein geschöntes Wahlergebnis gemeldet.
    Der verrostete Grenzzaun, die Wahlfälschung, die Friedensgebete, die Montagsdemonstrationen. Ein Ereignis ging in ein anderes über. Der politische Aufbruch verdrängte Roswithas private Probleme. Anfang Oktober 1989 spitzte sich die Lage zu. Es hieß, vor der Stadt stünden Panzer. Die Mutter eines Mädchens, das zusammen mit Oskar in die Kinderkrippe ging, erzählte, dass dieKlinik, in der sie als Ärztin arbeitete, an jedem Montag das Personal verstärkte würde.
    »Sie werden uns alle erschießen«, sagte Wladimir.
    »Besser, als in der Klapsmühle zu sterben!«
    Roswitha bereute diesen Satz, und sie bereute ihn nicht. Sie wusste, dass es Wladimir wehtat, aber sie hoffte auf Veränderung. Egal wie. Ihr Lieblingsruf war »Stasi in den Tagebau!«. Manchmal sah sie vor sich in der Menge jemanden laufen, der sie an Mick erinnerte, und sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass es schön wäre, diese Momente des Aufbruchs mit ihm zu erleben. Hatte er sich das
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