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Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)

Titel: Wenn die Wale an Land gehen (German Edition)
Autoren: Kathrin Aehnlich
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schwer, ihn noch zu begehren. So hatte sich Roswitha ihr Eheleben nicht vorgestellt. Sie redete sich ein, dass alles wieder normal werden würde, aber oft lag sie nachts wach und sortierte die Bestandteile von »unsere Zukunft«. Die Möglichkeiten, die sich ihr nach dem Studium boten, waren begrenzt. Um freischaffend zu arbeiten, fehlte ihr auf Grund ihrer persönlichen Situation der Mut. Sie war keine Modefotografin, und die Arbeit für eine Zeitung oder Nachrichtenagentur war auch nicht ihr Ziel. Am Ende würde ihr nur die Anstellung als Betriebsfotografin bleiben. »Unsere Zukunft« war die Aussicht auf ein geregeltes Leben mit einem Mann, den sie gerettet hatte, aber nicht mehr liebte. Ein Leben mit einer Einteilung in »schönen Feierabend« und »schönes Wochenende«. Der einzige Lichtblick war Oskar, aber was würde werden, wenn er in die Schule kam und auch dieser Alltag begann? In Roswithas Gedanken tauchte das Wort auf, vor dem sie sich am meisten fürchtete: Langeweile. Die Aussicht, bis an ihr Lebensende in einer Versorgungsgemeinschaft zu leben, machte ihr Angst.
    Roswitha bewunderte die Paare, die fröhlich ihren Louisiana Swing miteinander tanzten. Die Männer galant, die Frauen mit einem unwahrscheinlichen Körperbewusstsein. Doch den Tänzern wurde mehr und mehr ihre Tanzfläche entzogen, denn der Klub füllte sich, und der Manager stellte zusätzliche Stühle auf. Der Klub war dafür bekannt, dass viele Musiker nach ihren Auftritten noch einmal zusammenkamen, um gemeinsam zu spielen, oder auch nur, um einen Absacker zu trinken. Keiner konnte vorhersagen, wie sich der Abend entwickelte.
    Auf der Bühne saßen zwei Gitarristen und spielten einfach nur für sich selbst und, so weit Roswitha es aus dem Lärm der Gespräche herausfiltern konnte, auf sehr hohem Niveau.
    Ein Mann betrat den Raum, und für einen Moment verstummten die Gespräche. »Wer ist das?«, flüsterte Roswitha.
    »Lonnie Youngblood, der ›Prince of Harlem‹. Er war ein Freund von Hendrix und hat mit ihm gespielt.«
    Der Hendrix-Freund wirkte in seinen Bewegungen jugendlich, obwohl er nach Roswithas Berechnungen mindestens siebzig Jahre alt sein musste. Er trug ein schwarz-weiß gemustertes Hemd, mit weißem Kragen und Manschetten, einen dunkelgrauen Anzug, und er wirkte sehr gepflegt. Die Schuhe erinnerten Roswitha an Al Capone. Auch dem Schmuck nach zu urteilen, hätte er einen guten Gangsterboss abgegeben. Das waren keine gehäkelten Armbändchen und Muschelketten, sondern massives Silber. Der Hendrix-Freund legte seinen Saxofonkoffer auf der Bühne ab, ging an die Bar und ließ sich eine Cola geben.
    Was waren das für Zeiten!
    »Was hat Mick eigentlich mit diesem Klub zu tun?«, fragte Roswitha.
    »Er hat hier gekocht.«
    »Gekocht?«
    »Na ja, Dosen geöffnet und Teller in die Mikrowelle gestellt.«
    Der Hendrix-Freund packte bedächtig sein Saxofon aus. Schon als er es in die Hand nahm, dämpften alle ihre Stimme.
    Die Zeit der Cocktails war gekommen. Die Vitrine hinter der Bar leerte sich. Einige der Frauen, die getanzt hatten, thronten jetzt auf den Barhockern, nippten an den Drinks und wippten mit ihren High Heels. Die kleine, drahtige Barfrau mixte mit schnellen Bewegungen neue Drinks. Wenn sie ein Glas aus demobersten Fach der Vitrine holte, musste sie auf eine Bierkiste steigen.
    Plötzlich saßen ein Schlagzeuger und Pianist mit auf der Bühne, und von der Bar her kam ein Mann mit einer Klarinette.
    Die Musiker begannen mit »Night in Tunisia«. Das Saxofon beherrschte den Raum. Es waren Töne, die direkt ins Blut gingen, eine Infusion über die Ohren. Roswithas Sachen waren getrocknet, das amerikanische Bier zeigte doch Wirkung. Sie war dabei, schwerelos zu werden. Die Gedanken mischten sich in die Zwiegespräche der Instrumente, die Atmung stellte sich auf den Rhythmus um, und unwillkürlich begann sie bei den hohen Tönen die Luft anzuhalten.
    Unvermittelt war alles ganz nah. Sie lag neben Mick auf den Dielenbrettern der Polstererwohnung. Der Mond schien durch die Fenster, und die Metallstreben warfen ein Muster. Es sah aus wie die Takelage eines großen Segelschiffs. Befreit von allen Ufern trieben sie durch die Nacht. Und plötzlich wusste Roswitha wieder, warum sie Mick die ganze Zeit vermisst hatte.
    Die Songs gingen ineinander über, und die Musiker ließen kaum Zeit für Beifall. Sie spielten, als würden sie täglich mehrere Stunden miteinander üben. Die Musik war das Erbgut von Harlem. Die tiefen Töne
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