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Wenn der Acker brennt

Wenn der Acker brennt

Titel: Wenn der Acker brennt
Autoren: Brigitte Maerker
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Deutsch erschienen.
    »Der Betrachter deiner Bilder spürt, dass du die Landschaft fühlst«, hatte Lucien Maron, ihr Verleger, gesagt.
    Seine Anerkennung bedeutete, dass sie es geschafft hatte, zu den etablierten Fotografen im Verlagswesen zu gehören. Sieben Jahre zuvor hatte Lucien zufällig eine Ausstellung in München besucht, ihre Bilder entdeckt und ihr angeboten, für seinen Verlag in Frankreich zu arbeiten. Sie war Mitte zwanzig gewesen und bereit, die Welt zu entdecken. Ein paar Tage nach ihrem ersten Treffen mit Lucien war sie nach Paris gezogen und hatte es nie bereut.
    Inzwischen war sie viel gereist, hatte die schönsten Landschaften auf unzähligen Fotos festgehalten, aber wirklich zu Hause fühlte sie sich nur in diesem Haus am Ufer der Isar. Sie blickte aus dem Fenster, schaute flussabwärts, wo sich das Häusermeer der Stadt an den Fluss drängte. Ihr Blick wanderte hinüber zu den Bergen, und plötzlich erinnerte sie sich an den Duft des frisch gemähten Grases auf den Almen. Der Geruch erschien ihr so gegenwärtig, als sei sie erst vor Kurzem dort oben gewesen. Eine merkwürdige Erinnerung, da sie doch in den letzten Jahren kaum Zeit in den Alpen verbracht hatte. Ihre Mutter hatte sich nie für die Berge begeistert, und wenn sie zu Besuch nach Hause gekommen war, war ihr das Zusammensein mit den Eltern wichtiger als eine Wandertour gewesen.
    »Wenn dein Vater nicht so sehr an seiner Werkstatt hängen würde, wären wir schon längst fortgezogen, irgendwo ans Meer«, hatte Betti geantwortet, sobald Christine in ihrer Kindheit den Wunsch äußerte, einen Ausflug ins Gebirge zu machen.
    Hin und wieder ein Wochenende auf einem Bauernhof, zu mehr konnte sich Betti nie durchringen. In den Ferien ging es immer ans Meer: Nordsee, Mittelmeer, Atlantik. Robert schien Bettis Vorliebe für die See zu teilen. Christine beschloss, das Beste daraus zu machen, und wurde zu einer ausgezeichneten Schwimmerin. Sie lächelte, als sie die Fotografie von sich betrachtete, die auf der Kommode stand. Ein glückliches dreizehnjähriges Mädchen inmitten seiner Medaillen und Pokale, das es für sich und seinen Schwimmverein gewonnen hatte.
    »Mama, Papa«, flüsterte Christine, strich über das Kopfkissen ihrer Mutter, fuhr mit der Hand auf die andere Seite des Bettes. Sie legte die beiden Kissen übereinander und vergrub ihren Kopf in dem kühlen Baumwollstoff. Endlich konnte sie weinen.
    Sie wusste, dass es ein unsinniger Gedanke war, aber sie fühlte sich von ihren Eltern verlassen. Es tat so weh, nie wieder Kind oder Tochter sein zu dürfen, nie wieder bedingungslos geliebt zu werden. Mehr denn je bedauerte sie, keine Geschwister zu haben. Niemand war da, der mit ihr trauerte. Ihre Mutter war als Kriegswaise aufgewachsen, und die beiden Schwestern ihres Vaters, ihre einzigen Verwandten, waren nicht einmal zur Beerdigung gekommen. Sie hatten den Kontakt zu Robert abgebrochen, als er Betti heiratete. Christine hatte den Grund nie erfahren.
    Irgendwann trocknete sie ihre Tränen, öffnete den Kleiderschrank und zog einen Stapel Bettwäsche heraus. Vielleicht sollte sie die beiden Kissenbezüge mit den roten Rosen behalten? Das verblasste Muster erinnerte sie an die Zeit, als sie noch klein war, abends zu den Eltern ins Bett kroch und Paps ihr Geschichten erzählte, damit sie keine Angst mehr vor der Dunkelheit hatte. Beinahe ehrfürchtig betastete sie das feine Leinen, als sie auf eine mit Gold beschlagene Birkenholzschatulle aufmerksam wurde. Sie stand ganz hinten im obersten Fach des Schrankes. Behutsam nahm Christine sie heraus und setzte sich mit ihr auf den mit grünem Samt bezogenen Stuhl vor der Frisierkommode. Die Schatulle war nicht verschlossen. Auf dem schwarzen Satin, mit dem das Innere ausgekleidet war, lag ein in blauen Stoff gebundenes Buch. Auf der Vorderseite standen die goldfarbenen Initialen A.   L.
    Christine beugte sich nach vorn, um das Fenster zu öffnen. Die Nachmittagssonne tauchte den Garten in warmes Licht, und im Nu war das Zimmer vom schweren Duft der Rosen erfüllt, die dort blühten und die ihre Mutter so sehr geliebt hatte. Einen Augenblick lang war es Christine, als spürte sie Bettis Berührung, leise und unaufdringlich, so wie sie sich ihr immer genähert hatte. Sie legte die Beine auf die Kommode, steckte sich eine Zigarette an und klappte das blaue Buch auf.
    Auf der ersten Seite stand in einer zierliche Mädchenschrift: »Mein neues Leben«. Die Eintragungen begannen im Mai 1982, ein
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